Kommt Schnee
hatte beide Unterarme vor sich auf dem Bistrotisch gekreuzt. Die Handgelenke lagen übereinander wie bei einem Verhafteten, dem Handschellen einschneiden. Der Kopf lag auf den Unterarmen. Baumer atmete außerordentlich langsam. Ein Sportler halt. Heinzmann musste sogar einen beängstigend langen Moment warten, bis er sah, dass sich Baumers Oberkörper langsam ausdehnte und mit Luft füllte. Dann strömte die Luft – unhörbar – aus, und Baumers Schultern fielen sachte ein.
Andi Baumer schlief friedlich. Zumindest war das der Eindruck, den der Oberkörper gab. Die Beine hingegen waren angespannt. Das rechte war zurückgezogen, daher angewinkelt, und auf die Fußspitze gestellt. Das linke lag mit der Ferse auf dem gusseisernen, verschnörkelten Fuß des Bistrotisches. Auch dieses Bein war angewinkelt aber griff nach vorn aus. Andis Unterkörper erinnerte an den eines 100 Meter Läufers, der sich in seinem Startblock festgekrallt hat und angespannt auf den Startschuss wartet.
Stefan Heinzmann ließ seinen Freund in dieser Position schlafen. Er wusste, dass hier Fakten geordnet und gebündelt wurden. Er wünschte sich nur, dass Andi nicht wieder an Maja dachte, weil er wusste, dass das seinen besten Freund nur unnötig verletzen würde.
Dann drehte sich der Wachtmeister weg. Er warf noch einen letzten prüfenden Blick auf die Wohnung. Schnappte sich die Jacke seines Freundes, die halb auf dem Sofa und halb auf dem Boden gelegen hatte, und hängte sie auf. Er fummelte ein paar Fuseln von ihren Ärmeln, drehte sich noch mal zu Andi. Schaute zu ihm. Dann ging er leise.
Draußen stellte Heinzmann sein Funkgerät, das er schon vor einiger Zeit ausgeschaltet hatte, wieder an. Sogleich erhielt er Meldung, dass ein Drogensüchtiger in einer Rabatte beim Waisenhaus gefunden worden war. Der habe offenbar im Gebüsch unter der Wettsteinbrücke übernachten wollen. Dort am Kleinbasler Brückenpfeiler dieser breiten Rheinbrücke, die von der edlen St-Alban-Vorstadt und dem Kunstmuseum hinabführt in das mindere Basel mit seinen Arbeiter- und Rotlichtvierteln. Bei zwei Grad Außentemperatur sei der arme Mensch ein bisschen angefroren. Heinzmann müsse da hin. Es eile aber nicht. Der Drogensüchtige habe es nicht mehr eilig.
4
Am nächsten Morgen wachte Andi Baumer gegen sieben Uhr auf. Er war in der Nacht aus der unbequemen Position am Bistrotisch aufgewacht, hatte seine Hose und sein Hemd wie in Trance abgelegt, ein T-Shirt und eine Sporthose angezogen und war ins Bett geplumpst. Noch bevor er das Duvet über seinen Körper, über seine Nase, gezogen hatte, war er wieder weg. Die restliche Nacht schlief er durch, allerdings unruhig. Am Morgen war er sogleich hellwach und stand auf, duschte geschwinder als üblich und kleidete sich schnell an. Draußen hatte es geschneit. Heberlein, sein autistischer Nachbar, hatte mit seiner Prognose, dass Schnee komme, offenbar Recht gehabt. Also entschied sich Baumer, heute einen zusätzlichen Pullover anzuziehen. Selbstverständlich entschied er sich für seinen Lieblingssportpullover von Puma. Sandfarben. Der springende Puma war mit goldenem Seidenfaden – oder war es Nylonfaden? – dick auf den Pullover gestickt. Baumer schlüpfte hinein, das Logo kam direkt über das Herz zu liegen. Er packte seinen Winterparka und war draußen.
Als er in die Stadt ging, waren die Straßen bereits vom Schnee geräumt. Auf den parkenden Autos lagen hingegen etwa zwei Zentimeter von der weißen Pracht, genug, um sie in zartes Weiß zu tauchen. Die Pendlerautos aus den höheren Lagen des Baselbiets hatten hingegen deutlich mehr abbekommen. Manche große Schlitten waren wiederum komplett schneefrei. Deren Besitzer konnten sich offenbar eine Garage leisten. Vielleicht machten sie dafür monatlich ein paar Überstunden in der Versicherung. Oder in der Chemie. Vielleicht hießen sie ihre Frauen dafür zusätzlich einen Tag pro Woche in einer Bank putzen. Baumer schaute auf. Ein blanker schwarzer Mercedes fuhr an ihm vorbei. Auch er war schneefrei. Es war einer dieser mittelgroßen Limousinen, wie man sie jeden Samstag über die Grenze nach Weil am Rhein fahren sieht, wo sie bis an den Rand mit Raviolidosen, Spaghetti, Blitz-Teppichreiniger, Alaska-Lachs (gepfeffert), W5-Spülmittel, Bleudino-Käse, WC-Papier und dem gesamten restlichen Aldisortiment gefüllt werden.
Auf dem Weg in die Stadt ging Baumer über die Bahnhofs-Passerelle. Dort schnappte er sich alle Gratisblätter, die er packen konnte:
Weitere Kostenlose Bücher