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Kopernikus 7

Kopernikus 7

Titel: Kopernikus 7 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Alpers
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einem Handtuch zu verbergen.
     
    Mason fährt mit dem Taxi nach Hause. Zum erstenmal.
     
    In dieser Nacht erlebt er seine Transformation, er wird aus sich selbst herausgerissen, sein Inneres kehrt sich nach außen. Das Lustgefühl ist so stark, daß es, wie ein Schmerz, in der Erinnerung verschwimmt und rückblickend nur noch als schwerer Schock erscheint: ein Gefühl in Gestalt einer Woge von loderndem, grellweißem Licht. Es ist eine Lust völlig jenseits seiner Vorstellungskraft – seine extremsten Phantasien finden nicht nur Erfüllung, sondern Verstärkung. Und trotz aller Intensität des Gefühls ist es doch zugleich sanft, es ist ein Wissen, ein restloses Teilen von Emotion, eine transzendentale Empathie. Und danach ist nichts als Frieden – eine Stille, die größer ist als der Tod und dennoch nicht einsam. Ich liebe dich, sagt er zu ihr, und es ist das erste Mal, daß er es bei jemandem glaubt. Er begreift, daß Worte keine Bedeutung haben, aber er weiß, sie wird es verstehen: Ich liebe dich.
     
    Als er am nächsten Morgen aufwachte, wußte er, daß dies der Tag sein würde.
    Heute würde sie kommen. Die Gewißheit durchpulste ihn, er atmete sie wie Luft, und sie pochte in seinem Blut. Das Wissen darum drang durch jede Pore in seinen Körper und traf dabei auf dasselbe Wissen, das dort hervorsickerte. Es war etwas, das er in seinen Körperzellen spürte, eine biologische Zuversicht. Heute würden sie Zusammensein.
    Er schaute an die Decke. Sie war pockennarbig von Wasserflecken. Ein tiefer Riß zog sich zickzackförmig durch den abblätternden Putz. Es war wunderschön. Er betrachtete es eine halbe Stunde lang, ohne sich zu bewegen und ohne zu merken, wie die Zeit verging, ohne überhaupt zu wissen, daß er eine „Decke“ betrachtete. Dann fügte sich in seinem Kopf etwas träge zusammen, und er erkannte die Decke. Sie störte ihn nicht, wie sie es noch am Mittwochmorgen getan hatte. Es war ein vorübergehender Zustand. Sie besaß nicht mehr wahre Bedeutung als die Wand eines Schmetterlingskokons nach der Metamorphose.
    Mason rollte sich auf die Seite und stand auf. Erschöpfung und Alter waren verschwunden. Er war erfüllt von funkelnder, knisternder Vitalität; jedes Organ, jede Zelle schien mit einem Höchstmaß an Leistung zu arbeiten. Er war so gesund, daß „gesund“ kein angemessener Ausdruck mehr war. Dies war ein neuer, ein höherer Zustand.
    Mason akzeptierte ihn ruhig und ohne Frage. Seine Bewegungen waren entspannt und bedächtig, beinahe wie in einer Zeitlupenaufnahme, als schwämme er in Sirup. Er wußte, wohin er ging und daß sie einander heute finden würden – es war vorherbestimmt. Er hatte keine Eile. Die Unausweichlichkeit färbte auch seine Gedanken. Es war nicht mehr erforderlich, viel zu denken, denn es war alles arrangiert. Sein Kopf war fast leer, nur die tiefen Strömungen zogen noch ihre Bahn. Ihre Nähe blendete ihn. Er ging umher und träumte von ihr, von der Vergangenheit und von der Zeit, die vor ihm lag.
    Er ließ sich zum Fenster treiben und bewunderte müßig die Regenbogenreflexe, die das Sonnenlicht am Rande der Scheibe hervorrief. Die Straßen unten waren leer, es war so still wie in einer Kathedrale. Nicht einmal ein Vogel brach das heilige Schweigen. Papierfetzen tanzten wie Derwische über die Straße. Die Sonne erhob sich eben über den Backsteinhorizont, eine aufgedunsene rote Kugel, verschleiert noch vom Dunst der nahen Erde.
    Er starrte in die Sonne.
    Als er sich anzog, wurde er sich seiner Umgebung wieder bewußt. Verschwommen erkannte er, daß er seine Gürtelschnalle schloß, seine Füße in die Schuhe schob und die Schnürsenkel verknotete. Ein unregelmäßiges Muster aus Licht und Schatten an der Küchenwand fesselte seine Aufmerksamkeit.
    Er stand vor dem Schlachthaus. Blinzelnd starrte er auf die durchbrochenen Eisentore des Gebäudes. Irgendwann mußte er den Bus genommen haben und zur Arbeit gefahren sein. Er erinnerte sich nicht. Es kümmerte ihn nicht.
    Einen Korridor entlang. Das ferne Dröhnen einer Maschine.
    Er war im Aufzug. Menschen. Abwärts.
    Die Stechuhr.
    Eine Tür. Der Umkleideraum, tief unten in der Fabrik. Mason zögerte. Sollte er heute zur Arbeit gehen? Jetzt, da Lilith so nah war? Es war gleichgültig – wenn Lilith käme, würde sie ihn finden, ganz gleich, wo er war. Bis dahin war es leichter, sich nicht gegen die geübten Reaktionen seines Körpers zu wehren; es war viel leichter, ihnen einfach zu folgen, sich von ihnen

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