Kopernikus 7
Unzulänglichkeiten, allerlei Spannungszustände, allerlei verdrängte Probleme festgestellt, derer sich nur ein Teil der Familie (und dieser auch nur bis zu einem gewissen Grad) bewußt geworden war – aber wozu auch, so hätten die Wagenseils diesen Gedanken moniert, wird in uns herumgewühlt, wo an den Dingen doch nichts zu ändern ist. Oder aber: Es ist doch entscheidend, daß das, was wir machen, funktioniert.
So richtig dieser Gedanke ist, so sehr bricht sein Boden ein, wenn eine Familie wie die Wagenseils, durch die Umstände bedingt, in eine Situation gerät, in der das alte Verhalten nicht mehr weiterhilft. Dies schien schon am dritten Tag ihrer Reise, als die Urmiel noch sicher durch den blauen, ein wenig von Dunst überwogten Zwischenraum lief, der Fall zu sein. Karin, die ältere Tochter, hatte es zuerst gespürt.
Sie holte schon vom ersten Tag ihrer Reise an ihr Pensum an Mathematik nach, da sie sich sagte, daß es so mit ihren schulischen Leistungen nicht weiterging. Sie saß über ihrem Algebra-Buch und rechnete eine gemischt-quadratische Gleichung durch. Als sie den Zettel, auf dem sie schrieb, nach Linearfaktoren überflog, waren alle Zahlen auf einmal wie weggewischt. Gleichzeitig tropften die Unbekannten nach unten davon, als ergäbe sich ein Sog, der sie hinunter auf den teppichüberdeckten metallenen Boden zog.
Karin, die dachte, daß zuviel Arbeit an einem Stück ihr auch nicht guttat, blickte auf die Uhr. Während der Sekundenzeiger unter dem Glase kroch, bog sich diese nach unten, verjüngte sich und tropfte jetzt, als würde sie unter einer starken Strahlung aufgelöst. Schon im nächsten Augenblick kippte die Kabine um Karin weg, blähten sich die Wände auf, hatte Karin sekundenlang in den Weltraum hinaus und auf die verschwimmenden Sterne geblickt.
Als Karin wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Bett, und sie sah ihrem Vater, der sich streng über sie beugte, direkt ins Gesicht. Er hielt ein Buch, das Rezepte gegen Raumkrankheit und hohes Fieber enthielt, in der Hand und hatte Karins Handgelenk umfaßt. Karin fühlte sich ganz schlaff, und sie empfand während der Prozedur ein Gefühl der Unwirklichkeit.
„Na, es geht schon wieder“, hatte die Mutter gesagt. „So fängt die Raumkrankheit meistens an.“
„Aber“, murmelte Karins Bruder Tobias aus dem Hintergrund, „ich denke, da wird einem nur schlecht, und man bricht und bricht.“
„Sei still“, hatte die Mutter gesagt, „und beunruhige das Kind nicht zusätzlich noch.“
Tobias murmelte etwas, das Karin nicht verstand.
„So“, brummte der Vater und ließ Karins Handgelenk los und füllte eine Flüssigkeit aus einem Fläschchen ab. „Du kannst mich hören?“ fragte er, und als sie nickte, fuhr er fort: „Jetzt nimmst du das!“
„Aber was ist das?“ fragte Karin mit einer Stimme, die ihr selbst fremd vorkam.
Die Mutter sagte: „Sei still, dein Vater weiß schon, was er tut!“
Tobias hatte sich aus der Kabine verdrückt, während die Flüssigkeit mühsam Karins Kehle hinunterglitt. Nach einer Weile wurde es warm in ihrer Brust. Auch schien es Karin, daß die Zimmertemperatur anstieg. Das Licht an der Decke flackerte etwas. Das Gesicht ihrer Mutter, die sich jetzt, als der Vater zurückgetreten war, über sie beugte, erschien ihr spitz und streng.
„Schlafe jetzt, mein Kind“, sagte die Mutter fast schrill, aber es war eine Bedrückung da, die über Karin lag und die die ganze Nacht nicht wich.
In der Nacht, als Karins Fieber stieg, hatte der Vater ein Telegramm durch den Zwischenraum abgeschickt. Er fragte darin bei der nächsten Robotmedizinischen Station – einem kleinen, dunklen, im Quadranten X/12 gelegenen Stern – nach Verhaltensanweisungen, falls die Entwicklung, in der Karin sich zu befinden schien, sich nicht unterbinden ließ. Die Antwort, die mit einer merkwürdigen Verspätung von fast zwei Stunden im Morgengrauen einlief und deren Schwingungsmuster der Computer nur verschwommen aufnahm, beruhigte ihn. Die mitgeteilten Symptome wären normal: Das Kind zeige typische Verhaltensmerkmale, wie sie für Heranwachsende in diesem Alter und unter den Bedingungen des Zwischenraumes üblich seien.
Karin, die die ganze Nacht kaum schlief, hatte, als sie einmal für kurze Zeit in einen tiefen, bleiernen Schlummer fiel, einen Traum. Sie war als kleines Mädchen auf einem Planeten, der nur mit grünen Wiesen bedeckt war, ausgesetzt. Sie lag, als sie die Augen aufschlug, in saftigem Gras, an dem
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