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Kopernikus 7

Kopernikus 7

Titel: Kopernikus 7 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Alpers
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Worte, aber sie waren auch nicht mehr notwendig. Er verstand sie durch Empathie, durch die klare Wahrnehmung des Gefühls, die jenseits aller Sprache liegt. Angst durchzog ihr Wesen wie eine heiße eiserne Feile, Angst und das Gefühl, unaufhörlich und verloren durch eine grenzenlose, leere Trostlosigkeit zu taumeln, umgeben von Kälte und hallendem, brüllendem Dunkel. Sie erschien heute abend näher und dennoch unvorstellbar weit entfernt. Er fühlte, daß sie sich immer noch langsam auf ihn zubewegte, noch als sie sich hier trafen und ineinander aufgingen, er fühlte, daß ihr Körper auf dem Weg, den ihr Geist ebnete, zu ihm herangejagt kam.
    Er war ihr Ziel: Dies war die Theorie, die sein Geist sogleich formte und augenblicklich und dankbar akzeptierte. Von Anfang an hatte er sie in seinen Gedanken als Engel gesehen, und jetzt sah er sie als verlorenen Engel, der seit Ewigkeiten allein durch die Nacht irrte, plötzlich berührt von seiner Gegenwart, von ihm angezogen wie Eisenspäne von einem Magneten, aus dem Exil in das Reich des Lichts und des Lebens gehoben.
    Er tröstete sie. Er würde auf sie warten, er würde ihr Leuchtfeuer sein – er würde sie nicht allein im Dunkel lassen, er würde sie lieben und ans Licht ziehen. Sie beruhigte sich bei dieser Vorstellung, und sie bewegten sich zusammen, durchdrangen einander, wurden eins.
    Er versank tiefer in der Nacht.
    Er schwebte in sich selbst: Eine Möbiusschleife.
     
    Am nächsten Morgen erwachte er im Sessel. Auf dem Bildschirm summte das Testbild. Seine Unterhose klebte von Sperma.
     
    Die Gewohnheit treibt ihn zur Arbeit. Automatisch steht er auf, duscht und zieht sich frische Sachen an. Er frühstückt nicht; er hat keinen Hunger, und unbeteiligt fragt er sich, ob er je wieder Hunger haben wird. Seine Füße tragen ihn zur Bushaltestelle, und dort wartet er, ohne darüber nachzudenken, ob er die Tür verschlossen hat oder nicht. Er wartet, ohne an etwas zu denken. Die Sonne scheint. Vögel zwitschern in den Betondachrinnen des Apartmenthauses. Mason pfeift ebenfalls vor sich hin, ohne es zu merken. Er besteigt den Bus, der Fahrer stempelt seine Karte ab, und sanftmütig läßt er sich von der hereindrängenden Menge nach hinten zu einem unbequemen Sitz über dem Radkasten schieben. Dort sitzt er mit angewinkelten Knien auf dem winzigen Sitz und späht mit ungewöhnlicher Neugier umher. Die anderen Fahrgäste vermitteln ihm das erste schlechte Gefühl des Tages. Sie sitzen ordentlich aufgereiht da, ohne zu reden, ohne sich zu bewegen, ohne auch nur aus dem Fenster zu schauen. Sie sehen aus wie Kleiderpuppen aus dem Kaufhaus, unterwegs zu einem neuen Schaufenster. Sie sind überhaupt nicht da.
     
    Mason beschloß, sie Lilith zu nennen – zumindest vorläufig, bis zu jenem Tage, da er von ihren eigenen Lippen ihren wirklichen Namen erfahren würde. Der Name schwebte aus seinem Unterbewußtsein, aus den Ablagerungen der vergessenen Jahre in der Sonntagsschule. Daß er sie so nannte, lag weniger an den Assoziationen urzeitlicher Liebe, die der Name erweckte (obgleich sie auf einer tieferen Ebene mitschwangen), sondern weil er sich als unruhiges Kind während der langen Nachmittage von verwässerter Theologie Lilith immer als ein hübsches, mitfühlendes Wesen vorgestellt hatte, als die Sorte Frau, die ihm hinter dem Rücken des frömmelnden, wichtigtuerischen Lehrers verschwörerisch zuzwinkern würde: ein Mädchen mit einem Anflug von unerlaubtem Humor und Stil, ganz anders als die trüben, lehmgesichtigen Damen auf den Bibel-Illustrationen. Also wurde sie zu Lilith. Er fragte sich, ob er ihr den Namen würde erklären können, wenn sie einander begegneten, und ob er sie damit zum Lachen bringen würde. Mit solchen und anderen Details beschäftigte er sich den ganzen Tag über und wälzte sie in seinen Gedanken. Er war nicht verrückt, der Traum war Wirklichkeit, Lilith war Wirklichkeit, sie war sein – immer die gleichen Gedanken, die beständig umeinander kreisten. Er war glücklich mit dieser Beschäftigung, sie füllte ihn vollständig aus, und er war sich der äußeren Realität, in der er sich bewegte, nur teilweise bewußt. An den üblichen Spindgesprächen über Sport und Indochina und Frauen beteiligte er sich nur mit einsilbigem Grunzen, Fragen beantwortete er lediglich mit Nicken oder Achselzucken, und den täglichen Spießrutenlauf des „Hallo“, „Wiedersehen“, „Wie läuft’s denn so“ und anderer ritueller Äußerungen ignorierte

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