Korrupt (German Edition)
gesagt und auf Annies Bauch gedeutet. «Denk an dein eigenes Leben.»
Vielleicht hatte sie recht. Aber Annie hatte irgendwie das Gefühl, dass sie dafür verantwortlich war, Sissi und den anderen Frauen von der Straße so etwas wie Genugtuung zu verschaffen. Weil sie wie der letzte Dreck behandelt wurden. Annie fühlte sich wie eine Schwester, die die Verantwortung dafür trug, die Träume der Frauen von einem besseren Leben zu verwirklichen. Den Traum von Kindern, einem Reihenhaus und einem Volvo. Darüber wollte sie schreiben, egal, wem sie dabei auf die Zehen trat.
Annie warf noch einen Blick auf die Uhr und beschloss, zu Bett zu gehen. Kurz vor zwei und immer noch kein Max. Das war nicht das erste Mal, und sie wusste, was sie erwartete.
Das Telefon klingelte. Annie schreckte aus dem Schlaf und griff im Dunkeln nach dem Hörer.
«Max?»
«Nein, Andreas Larsson. Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.» Die Nachtredaktion.
«Wie spät ist es?»
«Spät. Es geht um Sissi.»
«Was ist los?»
«Ihr ist etwas passiert.»
3
«Lass mich in Ruhe!», schrie Sonja und hastete weiter. «Du verdammter Geier, lass mich in Ruhe.»
Annie hatte Sonja in einem Obdachlosenasyl in Hägersten ausfindig gemacht und versuchte sie einzuholen. «Jetzt warte doch. Ich will mit dir reden.»
Sissi war kurz nach Mitternacht ins St.-Göran-Krankenhaus eingeliefert worden. Schwer misshandelt. Sie hatte Annies Nummer in der Redaktion gewählt und Larsson von der Nachtredaktion erreicht. Verängstigt hatte sie behauptet, sie würde verfolgt. Als Annie im Krankenhaus eintraf, war sie spurlos verschwunden.
«Zwei Polizeibeamte haben nach ihr gefragt», sagte die Nachtschwester. «Als ich zehn Minuten später in ihr Zimmer kam, war sie weg. Die Polizisten im Übrigen auch.» Die Schwester konnte sich an keine Namen erinnern. Noch bevor es hell wurde, hatte sich die Sache mit Sissi auf der Straße herumgesprochen, und am Vormittag kursierten bereits mehrere Geschichten darüber, was vorgefallen war, wer sie gefunden hatte und wohin sie verschwunden war.
Sonja drehte sich um. Ihre Augen waren gerötet, was entweder ihrer Besorgnis oder ihren Entzugserscheinungen zuzuschreiben war, und Annie hielt abrupt inne. Getrocknete rosa Farbe blätterte von ihren Lippen.
«Du hast schon genug angerichtet. Sissi ist weg, und das verdammt noch mal nicht freiwillig. Kapierst du das? Das ist deine Schuld. Du verdammter Vampir!» Sie trat einen Schritt nach vorn, holte mit ihrer Handtasche aus und traf Annie an der rechten Schläfe. Der Schlag trieb Annie die Tränen in die Augen. Schweigend standen sie sich gegenüber. In Sonjas Tasche lag eine Hantel. Eine Passantin mit Hund wechselte die Straßenseite.
Die Wange schmerzte, aber Annies Tränen waren versiegt. «Ich hatte nie die Absicht, euch in Gefahr zu bringen», begann sie. «Oder Sissi und dich …»
«Aber getan hast du es trotzdem. Ich kenne sie so gut, als wäre sie meine Schwester. Wir haben zusammen gewohnt, und wenn ihr nichts zugestoßen wäre, dann hätte sie sich schon längst bei mir gemeldet.» Sonjas Stimme klang heiser. «Ihr ist etwas zugestoßen, sage ich. Wegen deiner verdammten Fragen. Du hast zu viele Fragen gestellt, und sie hat geantwortet, weil sie es nicht besser weiß. Jetzt ist sie weg. Ich wünsche dir, dass du in der Hölle schmorst, denn du bist schuld!»
Sonja ging mit großen Schritten weiter. Es hatte keinen Sinn, ihr zu folgen.
Annie legte sich die Hand auf den Bauch. Ihr wurde schwarz vor Augen. Wehen. Sie lehnte sich an einen Laternenpfahl und atmete tief durch. Sie hatte den Termin bei der Hebamme vergessen. Max war frühmorgens erst nach Hause gekommen. Als sie die Wohnung verließ, lag er noch auf dem Sofa und schlief. Im Wohnzimmer war eine Luft, als hätte jemand den Fußboden mit Gin gewischt.
Annie ließ sich in der U-Bahn Richtung Stadt auf einen Sitz sinken und weinte. Um sie herum starrten alle zu Boden. Ein alter Mann stieg in Liljeholmen zu und setzte sich ihr gegenüber. Lächelnd reichte er ihr ein Taschentuch. Es war nicht mehr ganz sauber, aber sie nahm es trotzdem. Er schloss die Augen und nickte, als würde er sie verstehen.
Die Tage nach Sissis Verschwinden erlebte Annie wie in Trance. Sie ging nicht in die Redaktion. Sie saß im Mikrofilmlesesaal der Kungliga Biblioteket und las alles, was sie über den Herrenbund finden konnte. Wie sehr sie sich auch dagegen sträubte, sie sah immer wieder Sissis hoffnungsvolles Gesicht vor
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