Korrupt (German Edition)
sich. Sie redete sich ein, dass Sissis Verschwinden nichts mit ihren Recherchen zu tun hatte. Sissi war ein Junkie. Junkies verschwanden gelegentlich und tauchten nach einer Weile wieder auf. Doch im nächsten Augenblick brach es wie eine Welle über sie herein. Falls Sissi etwas zugestoßen war, war das ihre Schuld. Sie hatte das Gefühl gehabt, mit den Informationen, die ihr die Mädchen anvertraut hatten, vorsichtig umgegangen zu sein. Aber jetzt war sie sich nicht mehr sicher, vielleicht war trotzdem etwas durchgesickert. Vielleicht hatten ihre Fragen nach den ermordeten Mädchen jemanden nervös gemacht, und dieser Jemand hatte daraufhin Nachforschungen angestellt. Ihr wurde bewusst, dass sie sich außer auf Max auf niemanden verlassen konnte. Aber um ihr Ziel zu erreichen, musste sie auch anderen vertrauen und Risiken eingehen.
4
«Haben Sie schon mal vom Herrenbund gehört?», fragte Annie.
«Dem Club?», fragte Kay Orha, der seit langem an den Ermittlungen über die ermordeten Frauen beteiligt war. Sie hatten nicht oft miteinander gesprochen, aber Annies Name war ihm im Gedächtnis geblieben.
«Ja, der Club.»
«Klar.» Er schwieg eine Weile. «Nicht im Zusammenhang mit einer Ermittlung, aber sonst schon. Wieso?»
«Ich beschäftige mich immer noch mit den Morden an den Prostituierten. Es deutet einiges darauf hin, dass auch Mitglieder des Herrenbundes involviert sind.»
«Das erstaunt mich nicht. Es gibt schon seit einer ganzen Weile Gerüchte. Eine Zeitlang hieß es sogar, der Herrenbund habe einflussreiche Polizeibeamte bestochen, damit Beweise verschwinden.»
«Das habe ich auch gehört. Man kann also sagen, dass dieses Gerücht immer noch kursiert.»
«Und was glauben Sie?»
«Kein Rauch ohne Flamme.»
«Schon möglich.»
«Es heißt, dass man in solchen Fällen doppelt so viele Beweise braucht.»
«Angeblich. Allerdings kann ich das bisher nicht bestätigen. Es gibt weder glaubwürdige Zeugen noch eindeutige Beweise. Es muss also jemand aussagen oder auf frischer Tat ertappt werden.»
«Früher oder später taucht immer irgendwas auf. Man muss seine Quellen nur lange genug bearbeiten.»
«Ja», antwortete er nachdenklich und verstummte. «Aber diese Warterei raubt einem den letzten Nerv.»
Annie hatte Kay Orha an der Polizeihochschule kennengelernt. Er hatte dort unterrichtet, als sie im Auftrag der Zeitung an einer Fortbildung teilgenommen hatte. Und er beschäftigte sich mit Fragen, die auch sie interessierten. Gewalt gegen Frauen. Prostitution als Geschlechterfrage. Sie diskutierten das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen. Die Vorstellung der Männer, die die Frau als Hure oder Madonna sahen, was zur Folge hatte, dass Männer ihre sexuelle Befriedigung in Zusammenhängen suchten, die sie und nicht die Frauen kontrollierten. Das wurde von einigen Beamten nicht goutiert. Denn Orha richtete den Blick auch auf die eigenen Reihen und tat das auch ganz offen im Seminar. Er konnte sich das aufgrund seiner vielen Verdienste erlauben. Niemand konnte etwas anderes behaupten, als dass er einer der besten, der erfahrensten und engagiertesten Polizeichefs des Landes war.
Er räusperte sich nach langem Schweigen. «Ich weiß nicht, ob Sie das wissen, aber ich setze mich nun schon seit einigen Jahren gegen die Ausbeutung von Frauen ein. Mit größter Wahrscheinlichkeit hat sich das nicht gerade positiv auf meine Karriere ausgewirkt. Dass wir keinen Schritt weitergekommen sind, ist nur schwer zu akzeptieren. Einige der Frauen auf der Straße sind fast noch Kinder. Ich denke an ihre Familien. Haben Sie Kinder?»
«Ich bin schwanger.»
«Herzlichen Glückwunsch. Wenn Sie mich fragen: Kinder sind ein Segen. Ich will Ihnen jetzt keine Angst machen, aber die Elternschaft bringt eine neue Verantwortung mit sich. Eine, die immer bleibt. Auch wenn die Kinder erwachsen sind. Darf ich ein bisschen privat werden?»
«Natürlich.»
«Ich habe eine Tochter. Sie ist fast vierundzwanzig und wohnt in Dublin. Dort hat sie einen Mann kennengelernt, der fast zehn Jahre älter ist als sie. Sie ist mit ihm verlobt, und ich bin ihm noch nicht ein Mal begegnet.»
«Sie hat sich bestimmt den Richtigen ausgesucht.»
«Sie schreibt, dass er Lorcan heißt. Wenn ich anrufe, ist sie nie zu erreichen.» Er seufzte. «Wie auch immer. Sie ist eine erwachsene Frau, aber für mich bleibt sie immer mein kleines Mädchen.»
«Ich verstehe. So ist das vermutlich bei allen.»
«Haben Sie ein gutes Verhältnis zu Ihren
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