Kovac & Liska 02 - In aller Unschuld
Nikotins. Es war ein einziger großer Raum. In einer Ecke stand eine Waschmaschine. Gegenüber befanden sich Vorratsregale. Den größten Teil des Raums aber nahm Stan Dempseys private Kommandozentrale ein.
Mehrere frei stehende Tafeln waren mit Tatort- und Autopsie-Fotos aus dem Fall Haas bedeckt. Kopien von Berichten, Kopien von Dempseys eigenen Notizen. Darüber hatte er auf hellem Packpapier, das er mit Kreppband an der Wand befestigt hatte, Zeitabläufe skizziert – wer war wann wo gewesen; wann waren die Leichen gefunden worden; der vom Gerichtsmediziner geschätzte Todeszeitpunkt. Kartons auf einem alten Zeichentisch enthielten Kopien der Akten zu dem Fall.
Nichts davon kam Kovac besonders ungewöhnlich vor. Sein eigener Keller war ebenfalls voll von alten Fallakten und Notizen. Die meisten Detectives, die er kannte, taten das. Sie hingen aus verschiedenen Gründen an diesen Dingen – Aberglauben, Paranoia, falls ein alter Fall in Revision ging, falls das Dezernat in Flammen aufging und die Originale zerstört wurden. Auch er hatte auf seinem Schreibtisch ein paar Akten herumliegen, damit er sie nach Feierabend durchgehen und darüber nachdenken konnte.
Was Kovac an Stan Dempseys Keller irritierte, war der Stuhl. Direkt vor der Tafel mit den Fotos war ein Holzstuhl mit gerader Lehne aufgestellt. Daneben stand ein riesiger Aschenbecher aus rotem Glas, der fast überquoll von alten Kippen.
Kovac stellte sich vor, wie Stan Dempsey stundenlang auf diesem Stuhl saß und auf das Gemetzel starrte. Bilder aus den finstersten Albträumen. Unvorstellbare Grausamkeiten, in der Zeit erstarrt. Die ausdruckslosen Gesichter der Opfer mit weit aufgerissenen Augen. Es schien kaum vorstellbar, dass es diese Menschen tatsächlich gegeben hatte, dass sie nur Stunden bevor die Fotos gemacht worden waren noch gelebt hatten. Oder dass sie – die Mutter und die beiden kleinen Kinder – in den Stunden vor ihrem Tod unbeschreiblichen Qualen ausgesetzt gewesen waren, dass sie eine überwältigende Furcht empfunden und vielleicht gewusst hatten, dass sie sterben würden.
Gab man sich solchen Überlegungen hin, dann konnte es leicht passieren, dass man die Schreie hörte, das blanke Entsetzen in den jetzt ausdruckslosen Gesichtern sah. Es konnte passieren, dass man das ganze Geschehen wie einen grausamen Horrorfilm vor seinem geistigen Auge ablaufen sah.
Wenn ein Polizist so etwas zuließ, wenn er einen Fall wie diesen persönlich nahm, wenn er zuließ, dass Logik, Polizeiarbeit und professionelle Distanz von Gefühlen, von Mitleid und Wut verdrängt wurden … dann wartete am Ende möglicherweise der Wahnsinn auf ihn.
Eine schreckliche Ahnung verdüsterte Kovacs Überlegungen, als er die Kellertreppe wieder hinaufstieg. Dieses Mal sah er sich bei seinem erneuten Gang durch das Haus gründlich um.
Die Küche war ein einziges Chaos. Der Tisch und der Boden waren bedeckt mit Müsli, so als wäre die Schachtel explodiert. Die Rosinen zwischen den Haferflocken sahen aus wie Rattenköttel. Der Milchkarton war umgefallen. Milch schwamm auf der Arbeitsfläche und tropfte über den Rand.
Die Müslischachtel machte den Eindruck, als habe jemand mehrere Male mit dem Messer darauf eingestochen. Die Tischplatte hatte offenbar eine ähnliche Behandlung erfahren – mehrere Messerstiche. Von dem Messer war nichts zu sehen, stattdessen entdeckte Kovac ein paar Blutspuren.
Stan Dempsey musste den Verstand verloren haben , dachte Kovac, während er sich in dem Chaos umsah. Auf der Küchentheke stand ein kleiner Fernseher. Die Regionalnachrichten liefen, aber der Ton war leise gedreht. Über den Bildschirm flimmerten Karl Dahls Foto aus der Verbrecherkartei und seine Beschreibung.
Gilt als außerordentlich gefährlich.
Bleiben Sie dem Mann fern.
Benachrichtigen Sie die Polizei.
Kovac ging ins Esszimmer. Von hier aus konnte er ins Wohnzimmer sehen, das ebenfalls völlig verwüstet war. Das alte braune Sofa war von Einschüssen durchlöchert. Eine Stehlampe lag auf dem Boden. Der Sofatisch war umgeworfen worden.
Was zum Teufel ist hier passiert?
Kovac überlegte kurz, ob das alles das Werk eines Einbrechers gewesen sein könnte, aber die Haustüren und Fenster waren fest verschlossen gewesen. Nein. Hier hatte Stan Dempsey gewütet. Das war das Ergebnis dessen, was sich in dem zurückgezogen lebenden, stillen, seltsamen Mann zusammengebraut hatte, seit er in einer stürmischen Nacht im August letzten Jahres an den Schauplatz eines
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