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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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sagte Tara kopfschüttelnd. »Justin nennt ihn so, und Mom und Dad jetzt auch. Die finden es niedlich .« Sie verzog das Gesicht.
    »Ist heute morgen sonst noch jemand im Haus?« fragte die Dame.
    »Nn-nnn«, sagte Justin. »Tante Carol wollte kommen, die ist aber statt dessen anderswohin gegangen. Daddy sagt, das macht gar nichts, weil Tante Carol sowieso nur eine Nervensäge ist.«
    »Pssst!« schnappte Tara und schlug nach Justins Arm. Der Junge versteckte sich hinter der Dame.
    »Ich wette, ihr seid manchmal einsam im Schloß«, sagte die Dame. »Habt ihr keine Angst vor Einbrechern oder bösen Menschen?«
    »Nee«, sagte Allison. Sie warf einen Stein zu der fernen Baumgrenze. »Daddy sagt, im Park ist es am sichersten, der beste Platz in der Stadt für uns Kinder.«
    Justin spähte um den Bademantel herum und sah der Dame ins Gesicht. »He«, sagte er, »was ist denn mit deinem Auge los?«
    »Ich habe ein wenig Kopfschmerzen, Kleiner«, sagte die Dame und strich sich mit zitternden Fingern über die Stirn.
    »Genau wie Mommy«, sagte Tara. »Bist du gestern nacht auch bei der Silvesterparty gewesen?«
    Die Dame ließ das Zahnfleisch sehen und sah zu dem Haus hinauf. »Stellvertretender Grund- und Bodendezernent hört sich sehr wichtig an«, sagte sie.
    »Ist es auch«, stimmte Tara zu. Die anderen hatten das Interesse an der Unterhaltung verloren und spielten Fangen.
    »Muß dein Vater etwas haben, womit er den Park vor bösen Menschen schützen kann?« fragte die Dame. »So etwas wie eine Pistole?«
    »Oh, klar, so eine hat er«, sagte Tara strahlend. »Aber wir dürfen nicht damit spielen. Er versteckt sie im oberen Fach in seinem Schrank. In den blauen und gelben Schachteln in seinem Schreibtisch hat er noch mehr Munition.«
    Die Dame lächelte und nickte.
    »Möchtest du hören, wie ich singen kann?« fragte Allison und ließ das hektische Fangenspielen mit Justin sein.
    »Aber gerne, Kleines.«
    Die Kinder saßen mit übereinandergeschlagenen Beinen im Gras. Die Dame blieb stehen. Hinter ihnen stieg die orangefarbene Sonne über den morgendlichen Dunst und die kahlen Zweige empor und stand am kalten, azurblauen Himmel.
    Allison setzte sich aufrecht hin, faltete die Hände und sang Hey Jude von den Beatles a cappella, drei Strophen, jede Note und Silbe so klar und rein wie die Frostkristalle im Gras, in denen sich die volle Morgensonne spiegelte. Als sie fertig war, lächelte sie, und die Kinder saßen schweigend da.
    Tränen standen in den Augen der alten Dame. »Ich glaube, ich würde jetzt gern euren Vater und eure Mutter kennenlernen«, sagte sie leise.
    Allison ergriff die linke Hand der Dame, Justin ihre rechte, und Tara ging voraus. Als sie gerade den Plattenweg zur Küchentür erreicht hatten, legte die Dame eine Hand an die Schläfe und wandte sich ab.
    »Kommst du nicht mit rein?« fragte Tara.
    »Vielleicht später«, sagte die Dame mit seltsamer Stimme. »Ich habe plötzlich schreckliche Kopfschmerzen. Vielleicht morgen.«
    Die Kinder sahen zu, wie die Dame sich mehrere zögernde Schritte vom Haus entfernte, einen leisen Schrei ausstieß und ins Rosenbeet fiel. Sie liefen zu ihr, Justin zupfte an ihrer Schulter. Das Gesicht der alten Dame war grau und zu einer schrecklichen Grimasse verzerrt. Ihr linkes Auge war vollkommen geschlossen, im anderen war nur das Weiße zu sehen. Der Mund der Dame stand offen und zeigte blutrotes Zahnfleisch und eine weiße Zunge, die zurückfiel wie ein Maulwurf, der sich im Hals eingraben will. Eine lange, perlenförmige Speichelschnur hing von ihrem Kinn.
    »Ist sie tot?« stöhnte Justin.
    Tara hatte die Knöchel in den Mund gepreßt. »Nein. Ich glaube nicht. Ich weiß nicht. Ich geh’ und hol’ Daddy.« Sie drehte sich um und lief zum Haus. Allison zögerte einen Augenblick, drehte sich um und folgte ihrer älteren Schwester eilig ins Haus.
    Justin kniete im Rosenbeet und zog den Kopf der bewußtlosen Dame auf die Knie. Er hob ihre Hand. Die war kalt wie Eis.
    Als die anderen aus dem Haus kamen, fanden sie Justin, der noch kniete, ihr sanft die Hand tätschelte und immer wieder sagte: »Nicht sterben, nette Dame, okay? Bitte nicht sterben, nette Dame. Okay?«
     

Drittes Buch
     
     
    >ENDSPIEL<
     
     
     
    >Ich erwache und sehe Dunkelheit anbrechen, nicht den Tag.<
     
    Gerard Manley Hopkins

36. Kapitel
     
    Dothan, Alabama: Mittwoch, 1. April 1981
     
    Das World Bible Outreach Center, fünf Meilen südlich von Dothan, Alabama, gelegen, bestand aus

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