Kraft des Bösen
schlang die Arme um die Knie und sah über die Sandfläche, die gegen das gelbe Steinaquädukt schwappte wie ein braunes und erstarrtes Meer. »Ich glaube, daß ich Amerika vermisse«, sagte sie. »Die letzten Tage waren ein Alptraum .«
Saul sagte nichts, und die beiden saßen ein paar zwanglose Minuten schweigend nebeneinander.
Natalie sagte als erste wieder etwas. »Ich frage mich, wer zu Robs Beerdigung gegangen ist.«
Saul sah sie an, die polarisierten Brillengläser reflektierten das Licht. »Jack Cohen hat geschrieben, daß Sheriff Gentry auf einem Friedhof in Charleston im Beisein von Mitgliedern mehrerer lokaler Agenturen und einer Abordnung der Polizei begraben wurde.«
»Ja«, sagte Natalie, »aber ich meine Leute, die ihm nahestanden. Waren Familienmitglieder da? Sein Freund Daryl Meeks? Jemand, der ihn ... ihn geliebt hat?« Natalie verstummte.
Saul gab ihr sein Taschentuch. »Es wäre Wahnsinn gewesen, wenn Sie hingegangen wären«, sagte er leise. »Sie hätten Sie erkannt. Außerdem waren Sie nicht in der Verfassung. Die Ärzte im Krankenhaus von Jerusalem haben gesagt, daß Ihr Knöchel kompliziert gebrochen war.« Saul lächelte ihr zu und nahm das Taschentuch zurück. »Mir ist aufgefallen, daß Sie heute fast nicht gehinkt haben.«
»Nein«, sagte Natalie, »es ist viel besser geworden.« Sie erwiderte Sauls Lächeln. »Okay«, sagte sie, »wer fängt an?«
»Sie, denke ich«, sagte Saul. »Jack hatte sehr interessante Neuigkeiten, aber ich möchte etwas über Wien hören.«
Natalie nickte. »Hotelregistrierungen beweisen, daß sie da waren ... Miß Melanie Fuller und Nina Hawkins ... das war Draytons Mädchennamen ... im Hotel Imperial ... 1925, ’26 und ’27. Im Hotel Metropol 1933, ’34 und ’35. Sie könnten auch in anderen Jahren dort gewesen sein, in anderen Hotels, die ihre Aufzeichnungen wegen des Krieges oder aus einem anderen Grund verloren haben. Das überprüft Mr. Wiesenthal noch.«
»Und von Borchert?« sagte Saul.
»Keine Hotelregistrierung«, sagte Natalie, »aber Wiesenthal konnte nachweisen, daß Wilhelm von Borchert von 1922 bis 1939 eine kleine Villa in Perchtoldsdorf außerhalb der Stadt gemietet hatte. Sie wurde nach dem Krieg abgerissen.«
»Was ist mit ... den anderen?« fragte Saul. »Verbrechen.«
»Morde«, sagte Natalie. »Die übliche Mischung aus Straßenkriminalität, politischen Attentaten ... Verbrechen aus Leidenschaft, und so weiter. Dann, im Sommer des Jahres 1925, drei bizarre, unerklärliche Morde. Zwei bedeutende Männer und eine Frau - ein prominentes Mitglied der Wiener Gesellschaft - wurden von Bekannten erstochen. In allen Fällen hatten die Mörder kein Motiv, kein Alibi, keine Entschuldigungen. Die Zeitungen sprachen von >Sommer-Wahnsinn<, weil keiner der Täter sich an seine Tat erinnern konnte. Alle drei wurden schuldig gesprochen. Ein Mann wurde hingerichtet, einer beging Selbstmord, der dritte Täter - eine Frau - wurde in eine Anstalt eingewiesen, wo sie eine Woche nach ihrer Einweisung in einem Goldfischteich ertrank.«
»Hört sich ganz so an, als hätten unsere jungen Gedankenvampire da mit ihrem Spiel angefangen«, sagte Saul. »Haben Blut gewittert.«
»Mr. Wiesenthal hat die Zusammenhänge nicht verstanden, aber für uns weitergesucht. Sieben unaufgeklärte Morde im Sommer 1926. Elf zwischen Juni und August 1927 ... aber das war der Sommer eines fehlgeschlagenen Putschs ... achtzig Arbeiter wurden getötet, als eine Demonstration außer Kontrolle geriet ... die Wiener Behörden mußten sich um mehr Sorgen machen als den Tod einiger Angehöriger der Unterschicht.«
»Also hat unser Trio den Kreis seiner Opfer gewechselt«, sagte Saul. »Vielleicht hat sie der Tod von Angehörigen ihrer eigenen Gesellschaftsschicht zu großem Druck ausgesetzt.«
»Wir fanden keine Meldungen über Verbrechen, die im Winter und Sommer des Jahres 1928 stattgefunden haben«, sagte Natalie, »aber 1929 verschwanden sieben Personen unter geheimnisvollen Umständen im österreichischen Kurort Bad Ischl. Die Wiener Presse sprach vom >Zauner-Werwolf<, weil alle Personen, die verschwanden - darunter einige bedeutende Persönlichkeiten aus Wien und Berlin - zuletzt im mondänen Café Zauner auf der Promenade gesehen wurden.«
»Aber keine Bestätigung, daß unser junger Deutscher und seine beiden amerikanischen Damen anwesend waren?« fragte Saul.
»Noch nicht«, sagte Natalie. »Aber Mr. Wiesenthal hat darauf hingewiesen, daß es in der Gegend
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