Kraft des Bösen
Kaffee. Es war schon dunkel, als sie sich zum Arbeiten in sein Zimmer zurückzogen und den zischenden Coleman-Leuchter anzündeten.
Auf dem langen Tisch stapelten sich Ordner, Stapel fotokopierter Dokumente, Berge von Fotog r afien - die obersten zeigten Opfer von Konzentrationslagern, die gleichgültig herausstarrten - und Dutzende gelbe Blöcke, die mit Sauls enger Handschrift vollgekritzelt waren. Blätter weißen Papiers voll mit Namen, Daten und Karten von Konzentrationslagern waren an die rauhen weißen Wände geheftet. Natalie fiel die verblichene Fotokopie des jungen Standartenführers und mehrerer Offiziere der SS auf, die aus ihrem Zeitungsfoto lächelten, daneben ein acht mal zehn großer Farbabzug von Melanie Fuller und ihrem Diener, wie sie den Hof ihres Hauses in Charleston überquerten.
Sie setzen sich auf schwere, bequeme Stühle, und Saul zog ein dickes Dossier zu sich. »Jack glaubt, daß sie Melanie Fuller ausfindig gemacht haben.«
Natalie fuhr senkrecht in die Höhe. »Wo?«
»Charleston«, antwortete Saul. »In ihrem alten Haus.«
Natalie schüttelte langsam den Kopf. »Unmöglich. So dumm kann sie nicht sein.«
Saul schlug die Akte auf und betrachtete die Unterlagen, die auf Briefpapier der israelischen Botschaft getippt waren. »Die Villa Fuller wurde geschlossen, bis über den endgültigen rechtlichen Status von Melanie Fuller entschieden sein würde. Es hätte lange dauern können, bis sie gesetzlich für tot erklärt worden wäre, und noch länger, über das Anwesen zu entscheiden. Es schien keine überlebenden Verwandten zu geben. Aber dann erschien ein gewisser Howard Warden auf der Bildfläche und behauptete, Melanie Fullers Großneffe zu sein. Er präsentierte Briefe und Dokumente - einschließlich eines Testaments, datiert auf den achten Januar 1978 -, die ihm das Haus mit allem Drum und Dran von diesem Datum an überschrieben ... nicht im Falle ihres Todes ... und ihm sämtliche Vollmachten erteilten. Warden erklärte, die alte Dame sei wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes und beginnender Senilität besorgt gewesen. Er sagte, es sei eine Formsache gewesen, er sei selbstverständlich davon ausgegangen, daß die alte Dame ihren Lebensabend in ihrem Haus verbringen könnte, aber nach ihrem Verschwinden und mutmaßlichen Tod schiene es ihm wichtig, daß sich jemand um das Haus kümmerte. Er lebt momentan mit seiner Familie dort.«
»Könnte er wirklich ein lange vermißter Verwandter sein?« fragte Natalie.
»Unwahrscheinlich«, sagte Saul. »Jack ist es gelungen, ein paar Informationen über Warden zu bekommen. Er wuchs in Ohio auf und zog vor etwa vierzehn Jahren nach Philadelphia. Die letzten vier Jahre war er Grund- und Bodendezernent des Stadtparks und hat die letzten drei tatsächlich im Fairmount Park gelebt ...«
»Fairmount Park!« rief Natalie aus. »Das ist dort, wo Melanie Fuller verschwunden ist.«
»Genau«, sagte Saul. »Nach Quellen in Philadelphia hatte Warden - der siebenunddreißig ist - eine Frau und drei Kinder, zwei Mädchen und einen Jungen. In Charleston paßt die Beschreibung auf seine Frau, aber sie haben nur ein Kind ... eine fünfjährigen Jungen namens Justin.«
»Aber .« begann Natalie.
»Warten Sie, es kommt noch mehr«, sagte Saul. »Das Haus der Hodges nebenan wurde im März ebenfalls verkauft. Es wurde von einem Arzt namens Stephen Hartman gekauft. Dr. Hartman lebt mit seiner Frau und deren dreiundzwanzigjährigen Tochter da.«
»Und was soll daran ungewöhnlich sein?« fragte Natalie. »Ich kann verstehen, daß Mrs. Hodges nicht in das Haus zurückkehren wollte.«
»Ja«, sagte Saul und schob die Fliegerbrille an cfer Nase hinauf. »Aber es scheint, als wäre Dr. Hartman ebenfalls aus Philadelphia - ein sehr erfolgreicher Neurologe -, der plötzlich seine Praxis aufgab, heiratete und die Stadt im März verließ. In derselben Woche, als Howard Warden und Familie den Drang verspürten, nach Süden zu ziehen. Dr. Hartmans neue Frau - seine dritte, und Freunde waren verblüfft, daß er überhaupt wieder heiratete - ist Susan Oldsmith, ehemalige Krankenschwester der Intensivstation des Philadelphia General Hospital .«
»Es ist nichts schrecklich Ungewöhnliches, daß ein Arzt eine Schwester heiratet, oder?« fragte Natalie.
»Nein«, sagte Saul, »aber laut Jack Cohens Ermittlungen könnte man Dr. Hartmans Beziehung zu Schwester Oldsmith als distanziert und rein beruflich bezeichnen - bis zu der Woche, als sie beide gekündigt und
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