Kramp, Ralf (Hrsg)
Mieter sind nach Belgien verzogen«, erklärte ich.
Fabian war Feuer und Flamme. Noch am selben Tag kamen er und seine Frau vorbei. Sie hieß Svenja und war wie er so um die dreißig. Ihre vielen roten Äderchen auf den Wangen bemerkte ich sofort und war mir sicher: Svenja hatte ein Alkoholproblem. Selbstverständlich verkniff ich mir jede Bemerkung darüber.
Das halbe Doppelhaus am Stadtrand gefiel den beiden auf Anhieb. Es machte ihnen auch nichts aus, dass wir zu den anderen Nachbarn einen Abstand von über hundert Metern hatten. Im Gegenteil: Sie fanden die Einzellage klasse. Einen Zaun zwischen den Gärten der Gebäudehälften gab es übrigens nicht, der war auch nicht nötig, denn bisher hatte ich mich mit allen Mietern gut verstanden. Das Haus stammte aus den Dreißigerjahren. Der Bauherr hatte damals ganz hinten auf dem Grundstück zwei Dutzend gute Eifler Fichten gepflanzt, inzwischen war daraus ein kleiner Wald geworden.
»Wie schön«, meinte Fabian bei der Besichtigung. »Dann haben wir ja ein eigenes Nadelwald-Biotop.«
»Und zwar ein ganz besonderes«, entgegnete ich und zeigte Fabian den riesigen Ameisenhaufen im Dickicht zwischen den Bäumen. Andächtig schauten wir den Tierchen zu. »Das sind Blutrote Raubameisen«, erklärte ich. »Lateinisch
Formica sanguinea
. Sie sind Fleischfresser. Aber wenn sie davon nicht genug finden, geben sie sich auch mit Grünzeug zufrieden. Und sie sind sehr fleißig. Vor ein paar Jahren sind bei einem Sturm einige dicke Äste auf den Ameisenhaufen gefallen, er war stark zerstört. In nur zwei Wochen haben sie ihn wieder aufgebaut.«
Fabian nickte begeistert.
Kurz darauf ging ich in Pension und überließ ihm die zoologische Sammlung. Er kümmerte sich liebevoll darum. Ab und zu kam ich ehrenamtlich vorbei und half ihm, er war mir dankbar. Auch als Nachbarn vertrugen wir uns gut. Wenn Svenja abends mit dem Auto aus Koblenz zurückkehrte, ging ich zu ihr, und wir wechselten ein paar Worte. Oft roch sie nach Wein. Ich fragte mich, ob sie eigentlich keine Angst vor Polizeikontrollen hatte, doch ich sprach sie nicht darauf an. Schließlich wollte ich unsere Freundschaft nicht belasten.
Im folgenden Frühjahr wurde mein Rheuma noch schlimmer, außerdem erlitt ich einen Herzinfarkt. Zwar erholte ich mich einigermaßen, doch von nun an musste ich Tabletten nehmen, um die Blutgerinnung zu hemmen. Mein Tod rückte näher, das spürte ich deutlich. Angst hatte ich keine, aber ich wollte nicht unnötig leiden. Natürlich hatte ich gelesen, dass die Palliativmedizin gerade für Schmerzpatienten viele Möglichkeiten bereithielt, den Übertritt ins Jenseits auf legale Weise sanft zu gestalten. Richtig überzeugt war ich von alldem trotzdem nicht. Ich hatte keine Lust, mir von fremden Menschen die Windeln wechseln zu lassen. Lieber dachte ich über eine raschere Lösung nach.
Beim nächsten Besuch im Gymnasium strich ich Herrn Pfeiffer und Edeltraut über ihre Köpfe und überlegte, wie wohl meine eigenen Knochen aussehen mochten. Womöglich waren sie schon jetzt in keinem guten Zustand mehr, und durch noch mehr Medikamente würden sie weiter abbauen. Also fasste ich einen Plan, und schon bald ergab sich die ideale Gelegenheit. Eines Abends stieg Svenja mal wieder mit einer heftigen Weinfahne aus ihrem Auto und meinte: »Ich habe morgen Geburtstag, Dieter. Wir feiern mit ein paar Freunden, ganz zwanglos, so ab acht Uhr. Du bist herzlich eingeladen.«
Ich sagte zu. Am nächsten Morgen sah ich, wie Svenja eine Kiste Sekt in den Kofferraum packte. Sicher würde sie abends wieder betrunken nach Hause kommen, dessen war ich mir sicher. Ich machte mich bereit: Ab achtzehn Uhr wartete ich hinter der Mülltonne. Sobald Svenja in die Einfahrt bog, warf ich mich vor den Wagen. Alles ging schnell, sie konnte nicht mehr bremsen. Der rechte vordere Kotflügel prallte gegen meinen Bauch, ich fiel hin, und wegen der gerinnungshemmenden Medikamente erlag ich rasch meinen inneren Blutungen. Aber das habe ich nicht mehr mitbekommen, denn ich war schon auf dem Weg durch den Tunnel hin zum großen weißen Licht. Kaum hatte ich es erreicht, verließ meine Seele den Körper und schwebte nach oben. So konnte ich die folgende Szene von höherer Warte aus betrachten.
Svenja stieg aus und übergab sich minutenlang in die Beete. Erst dann sagte sie Fabian Bescheid. Er stellte meinen Tod fest, öffnete panisch den Kofferraum, holte eine Decke heraus und warf sie über meine sterblichen Reste.
»Wir
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