Krank für zwei
immer –« fuhr die Polizistin mich an. Max unterbrach sie.
»Du wirst gebraucht, Vincent. Alexa ist schon im Kreißsaal. Nun, beeil dich. Sonst kommst du zu spät.«
Ich rannte. Es kam mir vor wie ein Albtraum. Aber ich rannte. Wenn ich einmal im Leben nicht zu spät kommen wollte, dann war es bei meinem Kind.
47
Ich erreichte den Kreißsaal während der Preßwehen. Alexa lag auf einem Bett und schrie vor Schmerzen. Der Anblick überwältigte mich. Alexas rotbraunes Haar breitete sich neben ihr auf dem weißen Laken aus. Ihr Gesicht war rot und verschwitzt und sie schrie, wie ich es noch nie zuvor gehört hatte. Es war ein Schreien ohne jede Zurückhaltung oder antrainierte Hemmung. Es kam aus Alexas tiefster Seele, aus ihrem Innersten. Mir kam in den Sinn, daß ein Mensch wohl nie so sehr Mensch war wie zum Zeitpunkt des Gebärens. Und es überkam mich wie eine Hitzewelle, daß ich dabei war. Daß dort gerade mein Kind zur Welt kam!
Ich näherte mich Alexa ganz vorsichtig von der Seite. Sie bemerkte mich erst, als die Wehe schwächer wurde. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Vincent, wie schön!«
»Alexa, ich bin jetzt bei dir. Alles ist gut.« Ich setzte mich auf die Bettkante und streichelte sie. Meinen rechten Arm, den ich mit meinem Sweatshirt notdürftig umwickelt hatte, hielt ich versteckt zur Seite.
»Ist es vorbei?«
»Ja, Alexa, es ist vorbei.«
»Das ist gut.« Alexa lächelte wieder. Ich küßte sie sanft auf die Wange.
»Wie geht es dir? Hältst du es aus?«
»Auf jeden Fall habe ich ab heute einen Heidenrespekt vor allen Kühen, die vor meinen Augen ein Kalb zur Welt gebracht haben. Ich wußte nicht, daß man sich so sehr auf etwas freuen kann. Darauf, daß die Wehe vorbei ist.«
»Sollen wir zusammen atmen?«
Alexa antwortete nicht. »Es geht wieder los«, murmelte sie. Ihr ganzer Körper schien sich zusammenzuziehen. Die Hebamme und eine Ärztin, die sich bei unserer Begrüßung in die andere Ecke des Zimmers zurückgezogen hatten, kamen wieder heran.
»Versuchen Sie sich zu entspannen«, sagte die Hebamme. Sie lächelte aufmunternd. »Und wenn es soweit ist, dann –«
Alexa schrie.
»Drücken Sie«, rief die Hebamme, »drücken Sie nach unten. Legen Sie Ihre ganze Kraft hinein.«
Plötzlich beugte sich die Gynäkologin über Alexa, legte sich auf ihren Bauch und drückte. Es war alles zu viel. Alexa schrie wie am Spieß.
»Ich sehe das Köpfchen!« rief die Hebamme. »Drücken Sie weiter. Es ist nicht mehr viel.« Alexa preßte ihre Fingernägel in meinen Arm. Ich versuchte sie zu halten. Die Gynäkologin schien Alexa ersticken zu wollen.
»Es kommt«, brüllte die Hebamme. Anders konnte sie sich gar nicht mehr verständlich machen. »Es kommt.«
Dann ging alles ganz schnell.
»Da ist er ja!« sagte die Hebamme. Ich konnte nicht richtig sehen, weil die Gynäkologin im Weg stand. Aber da schien es tatsächlich aus Alexa herauszugleiten. Unser Kind. Unser Kind war da! Alexa sank zusammen. Ihre Anspannung war mit dem Kind entwichen. Sie war am Ende, aber sie war erleichtert. Ich spürte es unter meinem Arm. Dann umarmte ich sie, einen kurzen Moment lang. Ich umarmte sie, so gut ich konnte. Und dann sprang ich auf. Ich war zittrig. Die Beine gingen fast unter mir weg. Aber da war er. Voller Blut lag er da. Die Hebamme sortierte gerade die Nabelschnur. Der Kleine schrie ein wenig. Es hörte sich an wie ein Wimmern.
»Da ist er«, stammelte ich. Ich konnte kaum sprechen vor Glück.
»Da ist er«, sagte die Hebamme. »Und er ist ein Mädchen.«
»Ein Mädchen.« Ich war überwältigt.
»Möchten Sie die Nabelschnur durchschneiden?«
Ich nickte nur. Die Gynäkologin reichte mir eine Schere. Meine Hand zitterte. Ich konnte die Schere kaum greifen.
»Sie haben ja –« sagte die Ärztin. Entsetzt schaute sie auf meinen Arm. Mittlerweile war das Blut durch das Sweatshirt gesickert.
»Gleich«, flüsterte ich. Ich nahm die Schere in die Linke. Es dauerte noch eine Weile, bis ich es schaffte, mit der zitternden Schere die Nabelschnur zu erfassen. Dann schnitt ich.
Unser Kind war auf der Welt. Ich heulte los.
»Und du kommst jetzt ein wenig zur Mama«, sagte die Hebamme. Sie nahm das Kleine und legte es Alexa an die Seite. Mir selbst rannen die Tränen übers Gesicht. Ich legte mich neben meine Tochter und schaute sie an. Sie hatte so kleine Finger, daß man Sorge hatte sie zu berühren. Und an den kleinen Fingern waren noch winzigere Fingernägel. Es war ein Wunder. Dies
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