Kratzer im Lack
einem müden, farblosen Beige, langweilig und unauffällig. Nur für den Sonntag gibt es eine blaue Perle. Sonntags morgens geht sie auf den Friedhof, dann kocht sie für sich und Wastl etwas besonders Gutes, denn Sonntag ist Sonntag, auch wenn man allein ist. Nach einem Mittagsschläfchen nimmt sie Wastl an die Leine und geht mit ihm im Park spazieren, wenn das Wetter danach ist. Dort lässt sie ihn frei laufen, schaut zu, wie er durch die Wiese kreiselt, und lacht, wenn ihm vor Begeisterung die Stimme überkippt beim Bellen. Danach sitzt sie dann in diesem kleinen, alten Café am Steubenplatz, wo sie schon mit Theo immer hingegangen ist, später, als die Kinder größer waren und sie sich das leisten konnten, und isst ein Stück Kuchen, Schwarzwälder Kirsch oder Obstkuchen.
Aus den Tagen sind Wochen geworden und aus den Wochen Monate und aus den Monaten Jahre. Frau Kronawitter hat das Empfinden für Zeit fast verloren. Zeit bedeutet für sie: ein Blick auf die Uhr, damit sie weiß, ob sie sich auf den Weg machen muss, auf den Weg zum Geschäft oder auf den Weg zu ihrer Wohnung. Ihre Tage verlaufen regelmäßig.
Und regelmäßig kommen auch ihre Kunden. Sie hat fast nur Stammkunden. Herbert kommt meistens als Erster, ein magerer, verschlossener Junge, ungefähr so alt wie ihr Enkel. Wolfgang ist im Juli vierzehn geworden. Sie kennt ihn kaum, nur an Weihnachten sieht sie ihn und manchmal an ihrem Geburtstag. Von Frankfurt nach München ist es einfach zu weit, um nur mal schnell zum Wochenende zu kommen.
Herbert kauft sich immer zwei Banjos und ab und zu mal ein Päckchen Kaugummi. Als sie ihm auf zwei Mark herausgibt, überlegt sie, woher er das Geld hat, jeden Tag. Er ist kein Kind wohlhabender Eltern, die Hollmanns wohnen im selben Haus wie Frau Kronawitter, im dritten Stock rechts. Diese Wohnung hat früher den Bergers gehört. Zehn Jahre ist es jetzt her, dass sie zu ihrer Tochter nach Amerika ausgewandert sind. Nein, Herbert hat keine wohlhabenden Eltern. Einfache Leute sind das in dieser Straße. Immer ist dies eine Straße der einfachen Leute gewesen, auch als sie selbst noch ein Kind war.
Wir konnten uns damals keine Banjos kaufen, denkt sie, wir nicht. Wenn es damals überhaupt Banjos gegeben hätte. Wir haben Margarinebrot mitbekommen für die Pause oder Schmalzbrot, und je nach Jahreszeit mal eine Karotte oder einen Apfel.
»Hier«, sagt sie und steckt die Banjos in eine kleine Papiertüte. Hellgrau ist die Tüte, hellgrau mit blauen Sternchen. Schon vor dem Krieg haben sie immer solche Tütchen gehabt, und als später ein Lieferant diese Muster wieder angeboten hat, hat Theo sich gefreut wie ein kleines Kind. Blaue Sternchen.
Für Herbert, die Sternchentüte in der Hand, hätte sie auch einfach weiß sein können, er weiß nichts von Theos Freude, er sieht die Sternchen gar nicht, nickt nur und steigt die zwei Stufen hinunter.
Sein Vater fährt Taxi, denkt Frau Kronawitter. Das ist auch nichts Besonderes. Und seine Mutter arbeitet in der Drogerie um die Ecke, bei dem Aumüller Martin. So gut geht der Laden dort auch nicht, dass der Aumüller seiner Verkäuferin sehr viel bezahlen kann. Keinem geht es mehr so gut wie früher, sie bringen nichts mehr ein, die kleinen Läden. Früher, als Theo noch gelebt hat, war das anders, da hat das Geld noch gereicht. Eine ganze Familie konnte davon leben. Natürlich, große Sprünge haben sie nicht machen können, auch früher nicht, doch das haben sie auch nicht gewollt. Sie sind zufrieden gewesen, wenn sie ihr Auskommen gehabt haben. Und wir haben Kinder aufziehen können, denkt sie, zwei Kinder.
Sie fängt schnell an, die Theke zu ordnen. Ganz vorn links steht der Karton mit den Überraschungseiern. Komisch, dass die Kinder so scharf darauf sind, so wenig Schokolade und so teuer, und das Zeug, das da drin ist, die Überraschungen, die sind doch nichts wert.
Zwei Kinder haben wir aufgezogen und jetzt ist nur noch die Gerda da.
Hinter die Überraschungseier sortiert sie die Lutscher, nicht nach Farben, das mag sie nicht, sie legt immer fünf verschiedene zusammen, bunt wie Ostereier, und daneben die Kaugummis.
Sie kann schon lange keine Kaugummis mehr kauen, das Zeug klebt ihr an den Zähnen fest. Sie hat ihre dritten Zähne. Damals, als die Amerikaner gekommen sind, nach dem Krieg, hat sie zum ersten Mal Kaugummi im Mund gehabt, ganz wild ist sie darauf gewesen, jahrelang. Theo hat sie immer ausgelacht wegen der Kauerei. Wie eine Kuh bist du, hat er
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