Kratzer im Lack
liegt bei ihr in der Familie. Schon ihre Mutter hat das gehabt. Krumm und schief ist sie gewesen in den letzten Jahren vor ihrem Tod und hat immer nur gejammert. Auch Frau Kronawitter spürt das Ziehen in den Gelenken.
Ich werde alt, denkt sie. Eine alte Frau sollte nicht mehr arbeiten.
Sie könnte den Laden aufgeben und in die große Stadt am Main ziehen, wo Gerda in einer Fünfzimmerwohnung lebt. Fünf Zimmer für sie, ihren Mann und den Jungen, den Wolfgang. »Ein Zimmer können wir dir leicht abgeben, Mutter«, hat Gerda gesagt. »Schau, du wirst bald siebzig und da wird es Zeit, Mutter.« Aber Frau Kronawitter kann es sich nicht vorstellen, woanders zu leben.
Sie überquert die Straße an der Ampel. Hundertzwanzig Schritte mehr muss sie dafür gehen, auf der einen Seite sechzig Schritte bis hin zur Ampel, auf der anderen Seite wieder sechzig zurück, bis zu der Stelle, dem Geschäft gegenüber, an der sie die Straße hätte überqueren können, wenn sie sich getraut hätte. Aber seit zwei, drei Jahren traut sie sich nicht mehr, sie ist wirklich nicht mehr gut auf den Beinen.
Wastl zieht zu den Hausecken, zu den Laternenpfählen, schnüffelt und hebt das Hinterbein. Kinder tauchen aus dem Nebel auf, einzeln oder auch mal zu zweit, mit Ranzen oder Schultaschen, muffelig bei diesem Wetter.
»Grüß Gott, Frau Kronawitter.«
Sie kennt die meisten von ihnen. Sie kennt die meisten Leute hier. Das ist ihre Straße, hier hat sie schon als Kind gelebt, hier ist sie alt geworden.
Sie schließt die Ladentür auf, hebt, ohne es überhaupt wahrzunehmen, die Füße, zwei Stufen hoch, jahrelange Gewöhnung ist das. Sie tastet mit der Hand nach dem Lichtschalter. Die Neonröhre blitzt zwei-, dreimal auf, dann ist es hell. Das ist jeden Morgen ein Moment der Erleichterung, wenn die Lampe brennt, wenn sie sich prüfend und ängstlich umgeschaut hat und sich versichert, dass alles in Ordnung ist. Was erwartet sie denn, um Gottes willen? Leichen im Laden? Frauenschänder? Sie lächelt. Ein halbherziges Lächeln ist das, eines, das die Angst vertreiben soll. Erleichterung ist in diesem Lächeln und Selbstkritik. Zum Lachen ist das, dass sie so alt geworden ist und sich im Dunkeln fürchtet wie ein Kind.
Theo ist gern in der Dunkelheit spazieren gegangen, ruhig und friedlich hat er die Nacht genannt. Er ist ein guter Mensch gewesen. Er hat es nie verstanden, dass sie sogar mit ihm zusammen Angst gehabt hat, er hat nichts gewusst von den drohenden Schatten und den verborgenen Ängsten, die einen im Dunkeln überfallen können.
»Ein dummes altes Weib bist du«, sagt Frau Kronawitter laut zu sich selbst. »Wer wird dir schon was tun?«
Wastl schüttelt sich und lässt sich auf sein Kissen hinter der Theke fallen, das geblümte, abgesteppte Kissen, das Frau Kronawitter immer wieder ganz unter die Theke schiebt, auch wenn der Wastl das nicht mag. Man muss dauernd mit einem Besuch von der Bezirksinspektion rechnen, völlig unverhofft tauchen die auf. Und ein Hund in einem Süßwarengeschäft, das ist sicher nicht erlaubt.
Frau Kronawitter legt ihre Handtasche in das Fach unter der Kasse, dann zieht sie ihren Mantel und den Schal aus und hängt sie an einen Haken hinter dem Vorhang, mit dem sie sich eine kleine private Ecke abgeteilt hat. Dort hat sie einen Topf, einen Tauchsieder, Tassen und Teebeutel, damit sie sich zwischendurch mal was Heißes zum Trinken machen kann. Von einem anderen Haken nimmt sie jetzt die weiße, gestärkte Schürze, die sie immer im Laden trägt.
Adrett muss man aussehen, wenn man Lebensmittel verkauft, immer sauber und adrett. Das hat Theo gesagt und daran hält sie sich auch. Eine fleckenlose weiße Schürze trägt sie über dem Kleid, jeden Tag, all die Jahre. Zwölf Jahre und drei Monate ist es jetzt schon her, dass sie sich entschlossen hat, den Laden allein weiterzuführen, zwölf Jahre und drei Monate seit Theos Tod. Ihre Hände zittern. Sie kann noch immer nicht in Ruhe daran denken. Sie nimmt ein Staubtuch aus dem offenen Fach unter der Theke und beginnt abzustauben.
So fängt er immer an, der Tag der Johanna Kronawitter. Jeden Morgen öffnet sie ihren kleinen Laden, mittags um zwölf geht sie in ihre Wohnung, in der schon ihre Eltern gelebt haben, und kocht für sich und den Hund. Bis drei ruht sie sich aus, dann steht sie wieder im Geschäft bis abends um halb sieben. Jeder Tag verläuft wie der vorangegangene, aneinander gereiht sind die Tage wie Holzperlen auf einer Schnur, Perlen in
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