Kratzer im Lack
gesagt. Auch die Kinder haben ständig gekaut, vor allem Ludwig.
Frau Kronawitter ist froh, dass eine Kundin kommt, die Frau Herrmann aus vierundachtzig im dritten Stock. Pralinen will sie, mit Schnapsfüllung, was besonders Gutes soll es sein, ihr Bruder hat Geburtstag. »Es darf ruhig ein bisschen mehr kosten«, sagt sie. »Mein Bruder lässt sich auch nicht lumpen.«
Frau Kronawitter berät, bedient, holt umständlich ihre Schachteln und Schächtelchen aus den Regalen und zeigt sie vor. Frau Herrmann hat Zeit.
Und Frau Kronawitter braucht nicht mehr an Ludwig zu denken.
3.
Es ist wirklich ein Glück, dass die alte Frau Kronawitter immer schon um halb acht aufmacht. Herbert schiebt die Banjos in die Schultasche. In der Hosentasche würden sie aufweichen, die Schokoladenschicht würde durch die Körperwärme zu einer braunen Schmiere werden. Schon der Gedanke bereitet ihm Übelkeit.
Einmal ist er im Sommer mit nackten Füßen in Hundedreck getreten, im Park. Seine Mutter hat gesagt, Barfußlaufen im Gras ist gesund. Gesund! Weicher, stinkender, schmieriger Brei an seinen Füßen.
Herbert steht vor der Schule. Ein rötlich grauer Klotz ist das, Fenster neben Fenster, eine große Tür wie das Maul eines vieläugigen Ungeheuers, das Kinder verschlingt, zu ganz bestimmten Zeiten, jeden Tag, immer wieder. Ein widerliches Drachenmaul, ekelhaft, wie es alles in sich hineinsaugt und später wieder ausspuckt.
Herbert zieht die Schultern ein wenig höher, nicht viel, fast unmerklich, aber er fühlt, wie seine Muskeln hart werden und sein Rücken steif. Ein Banjo, er braucht ein Banjo. Schon lange weiß er, dass ein Banjo ihn besänftigt, ablenkt, beruhigt. Er kann sich auf das Banjo konzentrieren, weiß dann wenigstens, was er mit seinem Mund machen soll, wenn so viele um ihn herum sind. Ein Banjo hilft immer.
Neulich hat er gelesen, dass Leute vor allem dann zu Zigaretten greifen, wenn sie ihre eigene Unsicherheit verbergen wollen. Und da sind ihm seine Banjos eingefallen. Das stimmt, hat er gedacht, man muss etwas in der Hand haben oder im Mund, dann ist alles viel leichter. Wenn man kaut, sieht einem niemand an, dass man Angst hat. Wenn man kaut, sieht man beschäftigt aus.
Dieser Tag würde kein guter Tag werden. Die Katze ist ihm über den Weg gelaufen, die schwarze Katze aus dem Nachbarhaus. Aus dem Nebel ist sie gekommen, plötzlich ist sie vor ihm aufgetaucht und über die Straße gelaufen. Er hat ihr nicht mehr ausweichen können.
Jeder weiß, was eine schwarze Katze bedeutet.
Blind tastet er nach dem Banjo. Nur die anderen nicht aus den Augen lassen dabei, es kann viel geschehen, wenn er wegschaut. Die anderen können ihm ein Bein stellen, ihn anrempeln, können ihn in den Dreck schmeißen. Der Schulhof ist voll mit flachen Dreckpfützen, die nach dem gestrigen Regen nicht aufgetrocknet sind. Im Gegenteil, sie sind noch größer geworden über Nacht, graubraune Schmutzinseln mit zerbrechlichen Eisrändern.
Konny und Stefan steigen mit ihren Gummistiefeln in die Pfützen, platschen darin herum wie kleine Kinder. Dabei sind sie so alt wie er. Der Dreck spritzt hoch und Herbert springt zur Seite. Er wäre fast hingefallen, rudert mit den Armen und findet das Gleichgewicht wieder. Konny lacht. Seine Augen sind Schlitze und seine Füße stampfen im Dreck. Die braune Brühe rinnt von den gelben Gummistiefeln, die Jeans sind dreckig, selbst auf dem Anorak sind noch Spritzer. Und damit setzen sie sich dann in die Klasse, denkt Herbert. Dass die sich nicht vor den Lehrern schämen.
Herbert lässt sich von der Menge die Treppe hochschieben. Es sind so viele Kinder, er kann nicht ausweichen. Er kann es nur ertragen, mehr nicht. Das Klassenzimmer ist schon fast voll.
»Herbert, hast du Mathe gekonnt?«, fragt Martina.
»Mathe? Ja.« Gleich wird sie ihn fragen, ob er sie die Hausaufgaben abschreiben lässt. So ist sie, nimmt ein Heft und schreibt in fünf Minuten ab, wozu ein anderer eine Stunde gebraucht hat. Mindestens eine Stunde, denn die Aufgaben sind nicht leicht gewesen. Den halben Nachmittag hat er daran gesessen.
Wenn Ellen ihn einmal fragen würde! Ellen, die braunhäutige, schöne, begehrte Ellen. Aber die schaut ihn nie an.
»Lässt du mich abschreiben?«, fragt Martina.
»Ich muss selbst noch was dran machen«, antwortet Herbert. »Ich muss noch eine Aufgabe nachrechnen, dazu bin ich gestern nicht gekommen. Nimm doch das Heft von jemand anderem.«
Martina schaut ihn an. Herbert kennt diesen
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