Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
sind Sie wohlanständige Fräuleins, vorher sahen Sie hübscher und auch natürlicher aus.»
«So ist es schicklicher», sagte Natascha, die sich Kaffee eingoss.
«Alles nur Vorurteile», bemerkte Anna kurz.«Was man gewohnt ist, das ist schicklich», fügte sie hinzu und begann rasch wie ein Vogel eine Beere nach der anderen aus ihrem Schälchen zu picken.
«Sind Sie frohgemut?», erkundigte sich der Fürst.
«Schrecklich!», erwiderte Anna.«Natascha und ich haben so schöne Beschäftigungen. Ich lese jetzt Philosophie und schreibe eine Erzählung. Natascha findet sie gut: Ich lese ihr jeden Abend vor, was ich morgens geschrieben habe.»
«Und was für Philosophie lesen Sie?»
«Dmitri Iwanowitsch hat mir jetzt Büchner und Feuerbach gegeben. 1 Er meint, das brauche ich für meine geistige Entwicklung. Und mir ist alles restlos klar geworden! Ich verstehe, dass einen derart einleuchtende Beweise auch zur Materialistin machen können.»
«Wie alt sind Sie denn?»
«Bald achtzehn.»
«Geben Sie Büchner und Feuerbach auf, verderben
Sie sich Ihre reine Seele nicht. Sie können sie nicht begreifen und werden nur die Orientierung verlieren.»
«Durch das Lesen von Philosophie? Niemals! Im Gegenteil, ich werde Aufschluss über mich selbst und meine Zweifel finden. Ich habe auch Ihre Aufsätze gelesen, aber sie sind schwierig, ich kann damit noch nicht sehr viel anfangen.»
«Wovon handelt denn Ihre Erzählung?»
«Davon, wie man lieben muss. Sie werden sie nicht verstehen. Natascha, ja, die versteht sie ganz wunderbar.»
«Das Verstehen bereitet keine Schwierigkeiten, Anna ist bloß allzu sentimental. Sie träumt von einer Liebe, die rein und ideal sein muss, fast so wie ein Gebet», sagte Natascha.
«Wie verträgt sich das mit dem Materialismus, Anna Alexandrowna? Da sind Sie schon in der Klemme …»
«Ach, da ist ja der Schmetterling, den Mischa für seine Sammlung gesucht hat», schrie Anna plötzlich auf und stürzte mit flinken, kräftigen Beinen zur Brüstung der Terrasse, um einen großen dunklen Schmetterling zu fangen.
Der Fürst erglühte beim Anblick der graziösen Figur Annas, die, den Schmetterling in der Hand, von der Brüstung heruntersprang.
«Wir sollten einen Spaziergang machen, einen ganz langen, und Mischa mitnehmen», schlug Natascha vor.
Alle stimmten zu, holten ihre Hüte, riefen den kleinen Mischa und beschlossen, ins Nachbardorf zu dessen Amme zu gehen.
Der Weg führte durch Felder, es war staubig und heiß; alle bewegten sich träge, und das Gespräch wollte nicht recht in Fluss kommen. Anna ging voraus; der Fürst holte sie ein und sagte lächelnd:«Wie klar und einfach alles in Ihrem Leben ist! Und sosehr Sie auch danach trachten, sich Fragen zu stellen, für Sie gibt es einfach keine, kann es sie gar nicht geben. Sie selbst mit Ihrer Jugend, mit Ihrer Klarheit und Ihrem Glauben an das Leben – Sie selbst sind die Antwort auf alle Zweifel. Gott, wie ich Sie beneide!»
«Nein, beneiden Sie mich nicht. Ich bin voller Zweifel, und … ich bin so unentwickelt», fügte sie traurig hinzu.«Seit ich begriffen habe, dass alles auf der Welt lediglich Bewegung ist und das Verhältnis der Atome zueinander, weiß ich nicht, ob es Gott gibt. Dmitri Iwanowitsch – Sie kennen ihn, das ist der Student, der uns aus Sosnowka besuchen kommt – meint, Gott sei Einbildung, einen göttlichen Willen gebe es nicht, alles werde durch das Gesetz der Natur bestimmt.
Das sind ja alles bloß Worte eines Ungläubigen. Möglicherweise hat er auch recht, aber ich kann noch nicht alles begreifen. Manchmal verlangt es mich so sehr zu beten – aber zu wem?»
«Sie sollten auf niemanden hören. Dmitri Iwanowitsch verunsichert Sie, und das ist nicht gut», sagte der Fürst, den Blick auf die Durchsichtigkeit der Haut an Annas Schläfen geheftet, durch die feine blaue Äderchen pulsten.
Sie wurde rot.«Dass er mich verunsichert, ist wahr. Aber er bemüht sich so um meine Entwicklung! Mischa, Mischa, wo willst du hin?», schrie sie plötzlich auf.
Aber es war schon zu spät. Mischa, auf den keiner geachtet hatte, war nicht mit über die Brücke gegangen, sondern um sie herum in den Sumpf hinein und bis zu den Knien eingesunken. Der Fürst hielt ihm seinen Stock hin und zog ihn heraus. Mischa war jedoch schon ganz durchnässt. Natascha, die in einiger Entfernung Blumen zum Trocknen gesammelt hatte, rannte herbei und begann ihn mit Gras und Tüchern abzureiben, wobei sie ihn mit ärgerlicher Stimme
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