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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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Physisches, und etwas physisch Abnormes ist noch lange nicht lasterhaft; das Laster, das wahre Laster liegt vielmehr genau darin, dass man physisch mit einer Frau verkehrt, sich aber von jedem moralischen Verhältnis zu ihr freispricht. »Und das ist nur ein Beispiel für Tolstois Inkonsequenz.

FRAUENHASSER ODER FEMINIST?
    Mit der ganzen moralischen Autorität, die Lew Tolstoi hatte (und er wusste, dass er sie hatte!), mit der ungeheuren Überzeugungskraft, die zu den Hauptmerkmalen seines Talents gehört und
mit der er seine Leser hypnotisiert, protestiert er in der Kreutzersonate gegen alle gesellschaftlichen Grundsätze. Nicht nur das eine oder andere sollte verbessert werden. Alles! Als sich herausstellte, dass manch schockierter Leser, um den geliebten Schriftsteller zu rechtfertigen, alles darauf schieben wollte, dass es sich nur um ein belletristisches Werk handle, dass die darin geäußerten radikalen Ideen bloß die Reden des Protagonisten seien, überredete einer der Tolstojaner den Autor, ein Nachwort zu schreiben. In diesem Nachwort spricht Tolstoi mit der Strenge eines Propheten: Ein erstrebenswertes Ideal sei absolute Keuschheit. Es sei eben ein Ideal, also vielleicht unerreichbar, aber es sei wie eine Kompassnadel, die dem Schiff eine Richtung angebe. Die kirchliche Lehre, die fälschlicherweise christlich genannt werde, gebe den Menschen eine falsche Vorstellung von dem Ziel des menschlichen Lebens. Die Poesie verführe junge Leute. Die Medizin unterstütze die schädliche Vorstellung, die körperliche Liebe fördere die Gesundheit. Klar, dass Tolstoi dabei viele alte und neue Tabus bricht.
    Tschechow, der ebenfalls vor keinem Tabu zurückwich, las das Nachwort und äußerte sich 1891 in einem Brief noch einmal zur Kreutzersonate :
«Zum Teufel mit der Philosophie der Größen dieser Welt. Alle großen Weisen sind despotisch wie Generäle, sie sind auch ignorant und taktlos wie Generäle, weil sie glauben, straffrei auszugehen. Diogenes bespuckte Bärte, wohl wissend, dass man ihm nichts anhaben konnte. Tolstoi beschimpft Ärzte und erlaubt sich, die großen Fragen ignorant zu behandeln, weil er wie dieser Diogenes ist, den man weder aufs Polizeirevier holen noch in den Zeitungen angreifen kann.»Und er schrieb, dass die ganze Philosophie Tolstois weniger wert sei als seine Beschreibung einer Stute in der Erzählung Der Leinwandmesser .
    Während Dr. med. Tschechow von Tolstois Verhältnis zur Wissenschaft und speziell zur Medizin schockiert war, während ihm Tolstois Utopismus einfach naiv vorkam, ging es anderen Lesern in erster Linie um moralische und soziale Fragen.
    Eine der Hauptanschuldigungen gegen die Kreutzersonate war und ist ihre angebliche Frauenfeindlichkeit. Ich finde, dass das ein Missverständnis ist. Selten kommt ein männlicher Autor feministischen Parolen so nahe wie Graf Tolstoi. Er tadelt die Männer, weil sie zu einer klaren brüderlichen Beziehung zur Frau nicht fähig sind, er fordert für Frauen die Gleichberechtigung
bei der Wahl des Sexualpartners (als zweite Wahl, die erste wäre absolute Keuschheit und Jungfräulichkeit, aber dann bitte schön für beide Geschlechter); er behauptet, dass elegante Kleider, Schmuck und Kosmetik die Frau erniedrigen, aus ihr eine rächende Sklavin machen, die durch die ungeheure Macht des Eros’ ihrerseits die Männer versklavt.
    Die dringlichsten Fragen der damaligen Frauenbewegung waren andere: Wahlrecht und Bildung. Und was sagt Tolstoi dazu? Er sagt, dass diese Rechte eine Frau noch lange nicht zu einem gleichberechtigten Menschen machen, sie bleibt immer noch eine Sklavin der männlichen Lust. Dass nur die Befreiung der Frau von der Rolle, die ihr die männliche Gesellschaft aufgezwungen hat, ihr ihre Menschenwürde gibt. War Tolstoi der Zeitschrift Emma nicht fast ein Jahrhundert voraus?

    Seit Erscheinen der Kreutzersonate ist vieles anders geworden. Vorübergehend scheinen die (westlichen) Frauen im Geschlechterkampf die Oberhand zu gewinnen. Ich glaube sogar, dass sie den Männern gegenüber nun netter sein dürfen. Denn die befreiten Unterdrückten entwickeln sich leicht zu Unterdrückern. Wäre das
nicht noch ein Grund, die Kreutzersonate zu lesen? Damit die Frauen lernen, die Männer nicht zu dämonisieren, nur weil sie schwach sind? Und die Männer daran denken, dass die Frauenbewegung nicht aus bloßer Zickigkeit hervorging? Wie auch immer: Solange die Menschheit in zwei Geschlechter unterteilt ist (und das wird sie

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