Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
Ehe nachdenke, desto öfter kommt mir der Verdacht, dass diese zwei Menschen, die einander bestimmt liebten, überhaupt nicht für die Ehe geeignet waren. Oder doch? Jeder kennt den berühmten Anfangssatz von Anna Karenina :«Alle glücklichen Familien ähneln einander;
jede unglückliche ist auf ihre eigene Art unglücklich.»Dank der hypnotisierenden Kraft des tolstoischen Tonfalls zweifelt niemand an dieser These. In Wirklichkeit ist es eher das Familienglück, das verschiedene Formen annimmt. Das Familienunglück ist wenig einfallsreich.
MORAL UND LIEBE
Nicht dass Sofja Tolstaja generell gegen Lew Tolstois neue Ideen gewesen wäre. In mancher Hinsicht konnte sie sie verstehen. Denn zum größten Teil war seine neue Weltanschauung aus Gedanken, Gefühlen, Ängsten zusammengesetzt, die jeder nicht ganz kopf- und gewissenlose Mensch ab und zu verspürt, nur nicht so intensiv, nicht tagtäglich, nicht jede Minute. In einer gemäßigten Form, die intensive Wohltätigkeit und Gesellschaftskritik eingeschlossen hätte, hätte die Gräfin sie akzeptieren und sogar gutheißen können. Bei Tolstoi jedoch, bei dem alles ein paar Nummern größer war (dazu zählen auch die Eigenschaften, mit denen er sein ganzes Leben lang kämpfte: seine Wutanfälle, seine Sinnlichkeit oder sein Ehrgeiz), erreichten sie eine Intensität, die kein normales, profanes
Leben neben sich duldete. Tolstoi konnte sein gewohntes Leben nicht weiterleben, ohne seine Überzeugungen zu leugnen. Er konnte seinen Überzeugungen nicht folgen, ohne sein Leben zu leugnen. Seine neuen Überzeugungen waren auch nicht besonders gut mit der schönen Literatur vereinbar; er wollte schlicht und (wie er sagte)«uneitel»schreiben und blieb fast wider Willen ein Magier des Wortes. Seine späten Werke, ob belletristisch, philosophisch oder publizistisch, haben dieselbe kreative Wucht, dieselbe poetische Sprache, plastisch, überzeugend, unlogisch, detailreich, sie sind mit allem möglichen Überfluss ausgestattet, der nie zu viel oder zu manieriert wird. Er blieb ein Dichter. Dafür (oder dagegen) konnte er nichts – ebenso wenig wie dafür, dass er ein sinnlicher Mensch war, der alle Freuden des Lebens zu genießen wusste.
Wenn Tolstoi über die Frauen in den Moskauer und Petersburger Salons spricht, wie sie die nackten Körperteile zur Schau stellen (und das sind Schultern und Arme), die so aufregend wirken würden, dass man nicht verstehen könne, wieso sich die Polizei nicht einmische, frage ich mich als Leserin aus dem 21. Jahrhundert: Wie halten das heutige Männer eigentlich aus, all die nackten Bäuche und Pos in den Straßen der
westlichen Städte und Dörfer? Gewöhnungssache? Oder leben sie in andauernder Qual? Als Frau in der postfeministischen Gesellschaft genießt man («frau») natürlich alle Errungenschaften der Suffragetten und Feministinnen – sich nur nach dem eigenen Geschmack und entsprechend der jeweiligen Situation anzuziehen, von den Männern menschliches Verhalten verlangen zu können, Selbstbestimmung nicht unbedingt im Familienleben zu finden, aber – und das ist eine Stufe höherer Freiheit – gerne auch darin. Von Wahlrecht und Bildung ganz zu schweigen. Die Kreutzersonate erinnert uns daran, dass die Zeit gar nicht so lange zurückliegt, in der all das nicht derart selbstverständlich war. Natürlich ist die Realität nicht so rosig, wie ich sie darstelle, es geht nur darum, was in der (europäischen) Gesellschaft heute als Norm angenommen wird.
Die Kreutzersonate , die Tolstoi nach seiner«geistigen Geburt»schrieb, hinterlässt bei aller moralischen Rigorosität den Eindruck, dass nichts für den Erzähler so wichtig ist wie dieses eine Thema: Eros. Leidenschaft. Das Wechselspiel von Liebe und Hass, das heißt von erotischer Anziehung und Abstoßung. André Maurois macht in Lettres à l’inconnue Folgendes als eigentlichen Schmerzpunkt in der Kreutzersonate
aus:«Das ist eine ungewöhnliche, feuerspeiende Novelle, die unter dem Einfluss des Konflikts zwischen dem Temperament eines Fauns mit seinem ständigen Verlangen nach einem Frauenkörper einerseits und der strengen Moral der Enthaltsamkeit andererseits geschrieben wurde.»Ist dem wirklich so? Hier spricht ein gesunder Menschenverstand, der einen in alle Richtungen strebenden Wirbelsturm in geordnete Bahnen lenken will. Denn fast zu jeder These finden wir bei Tolstoi eine Antithese. Die leibliche Liebe ist sündhaft? Ja, schon … Aber:«Das Laster ist ja nichts
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