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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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diese Herren, zu denen auch ich zählte, all diese dreißigjährigen Wüstlinge, die eine Unzahl verschiedenster, entsetzlichster Verbrechen gegen die Frauen auf dem Gewissen hatten, wir dreißigjährigen Wüstlinge also erschienen, wenn wir sauber gewaschen, rasiert und parfümiert, in blütenreiner Wäsche und Frack oder Uniform einen Salon oder einen Ballsaal betraten, wie der Inbegriff der Reinheit – entzückend!
    Bedenken Sie nur einmal, was richtig wäre, und was tatsächlich geschieht. Richtig wäre, dass ich, wenn in der Gesellschaft meiner Schwester oder Tochter ein solcher Herr auftaucht, um dessen Lebensweise ich weiß, auf ihn zugehe, ihn beiseitenehme und leise sage: ‹Mein Bester, ich weiß genau, wie du lebst, wie du deine Nächte verbringst und mit wem. Du bist hier fehl am
Platz. Hier sind reine, unschuldige Mädchen. Geh!› Das wäre richtig; tatsächlich aber ist es so, dass wir vor Freude jauchzen, wenn ein solcher Herr auftaucht und unsere Schwester oder Tochter in den Arm nimmt und mit ihr tanzt, sofern er nur reich ist und gute Verbindungen hat. Mit etwas Glück wird er nach der Rigolboche 7 auch unserer Tochter die Ehre erweisen. Und wenn er Spuren davongetragen hat, Krankheiten – macht nichts. Dafür gibt es heute gute Ärzte. Wahrhaftig, ich weiß von einigen Töchtern der höheren Gesellschaft, deren Eltern entzückt waren, sie mit einem Syphilitiker zu verheiraten. Ah! Abscheulich! Aber es kommt die Zeit, da diese Gräuel und Lügen entlarvt werden!»
    Er machte mehrmals sein seltsames Geräusch und wandte sich dem Tee zu. Der Tee war furchtbar stark, und es gab kein Wasser, um ihn zu verdünnen. Ich spürte, wie die zwei Gläser, die ich getrunken hatte, mich eigentümlich aufwühlten. Anscheinend wirkte der Tee auch auf ihn, denn seine Erregung steigerte sich immer mehr. Seine Stimme wurde immer melodischer und ausdrucksvoller. Er wechselte in einem fort die Position, nahm seine Mütze ab und setzte sie wieder auf, und sein Gesicht schien im Halbdunkel des Wagens seltsam zu flackern.

    «So lebte ich also, bis ich dreißig war, und dabei gab ich nie auch nur für eine Minute die Absicht auf, zu heiraten und mir ein ideales, makelloses Familienleben einzurichten – zu welchem Zweck ich denn auch nach einem geeigneten jungen Mädchen Ausschau hielt», fuhr er fort.«Ich suhlte mich in Fäulnis und Laster, und gleichzeitig prüfte ich junge Mädchen darauf, ob ihre Reinheit meinen Ansprüchen genügte.
    Viele verschmähte ich eben deshalb, weil sie mir nicht rein genug waren; endlich fand ich aber eine, die ich für meiner würdig hielt. Sie war eine von zwei Töchtern eines ehemals sehr reichen, inzwischen aber verarmten Gutsbesitzers aus dem Gouvernement Pensa.
    Eines Abends – wir waren von einer Bootsfahrt spät zurückgekehrt, ich hatte im Mondlicht neben ihr gesessen und mich an ihrer wohlgeformten Figur im eng anliegenden Jersey und an ihren Locken ergötzt – beschloss ich plötzlich, sie sei die Richtige. Mir schien an jenem Abend, als verstünde sie alles, was ich fühlte und dachte, und als fühlte und dächte ich nur die erhabensten Dinge. Eigentlich ging es aber nur darum, dass die Jerseytaille sie besonders gut kleidete und die Locken ebenso, und dass ich nach dem in
ihrer Nähe verbrachten Tag Lust hatte, ihr noch näher zu kommen.
    Es ist erstaunlich, wie vollständig bisweilen die Illusion ist, dass das Schöne zugleich auch das Gute sei. Eine schöne Frau redet dummes Zeug, aber wer ihr lauscht, hört nichts Dummes, sondern etwas Kluges. Sie sagt und tut etwas Gemeines, aber man sieht darin etwas Liebenswürdiges. Und wenn sie gar weder Dummheiten noch Gemeinheiten von sich gibt, sondern einfach nur schön ist, dann ist man sofort überzeugt, sie sei Wunder wie klug und tugendhaft.
    Ich fuhr begeistert nach Hause, für mich stand fest, dass sie der Gipfel der moralischen Vollkommenheit war und deshalb würdig, meine Frau zu werden, und am Tag darauf hielt ich um ihre Hand an.
    Was für eine Verwirrung! Unter tausend Männern, die heiraten, findet sich ja nicht nur bei uns, sondern leider auch im Volk kaum einer, der nicht vor seiner Ehe schon zehnfach, wenn nicht hundertfach oder, wie Don Juan, tausendfach verheiratet gewesen wäre. (Allerdings höre ich neuerdings, dass es auch unberührte junge Männer gibt, die fühlen und wissen, dass all das kein Spaß, sondern eine große Sache ist. Gott helfe ihnen! Zu meiner Zeit fand sich unter Zehntausend
nicht einer von

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