Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
gründet, wenn ich aber bezweifle, dass es eine andere als die sinnliche Liebe gibt, wollen Sie mir deren
Existenz damit beweisen, dass es Ehen gibt. Heutzutage ist die Ehe doch nur noch ein Betrug! »
«Mit Verlaub», sagte der Anwalt,«ich behaupte nur, dass Ehen existiert haben und auch weiter existieren werden.»
«Richtig. Aber warum? Sie haben existiert und existieren weiter bei Menschen, die in der Ehe etwas Mystisches sehen, ein Sakrament, das sie vor Gott verpflichtet. Bei solchen Menschen gibt es Ehen, bei uns nicht. Bei uns heiraten Menschen, für die die Ehe nur im Beischlaf besteht, und die Folge ist entweder Betrug oder Gewalt. Der Betrug lässt sich noch leichter ertragen. Mann und Frau tun nur vor der Außenwelt so, als lebten sie monogam, tatsächlich aber treiben sie Vielweiberei und Vielmännerei. Das ist scheußlich, aber noch nicht das Schlimmste – wenn sich jedoch Mann und Frau, wie es meistens geschieht, nach außen hin verpflichten, ihr ganzes Leben gemeinsam zu verbringen, einander aber schon vom zweiten Monat an hassen, wenn sie sich trennen möchten und doch zusammenbleiben, dann ist das Ergebnis die Hölle, jene Hölle, der zu entkommen Menschen sich um den Verstand trinken, sich duellieren, sich selbst oder den anderen umbringen und vergiften.
»Er sprach immer schneller, ließ niemanden mehr zu Wort kommen und geriet zunehmend in Rage. Alle schwiegen. Es war peinlich.
«Zweifellos gibt es kritische Episoden im Eheleben», sagte der Anwalt, der dem ungebührlich erhitzten Gespräch ein Ende machen wollte.
«Wie ich sehe, wissen Sie, wer ich bin?», sagte der grauhaarige Herr leise und scheinbar wieder ruhig.
«Nein, ich habe nicht das Vergnügen.»
«Ein zweifelhaftes Vergnügen. Posdnyschew ist mein Name. Ja, eben der Posdnyschew, dem die bewusste kritische Episode zugestoßen ist, auf die Sie anspielen, die Episode nämlich, dass er seine Frau umgebracht hat», sagte er und musterte rasch jeden Einzelnen von uns. Keiner wusste etwas zu sagen, alle schwiegen.
«Nun, egal», sagte er und machte wieder sein Geräusch.«Oder vielmehr, verzeihen Sie! Ach! … Ich will Sie nicht belästigen.»
«Aber nein, ich bitte Sie», sagte der Anwalt, ohne selbst zu wissen, worum er eigentlich bat.
Aber Posdnyschew hörte nicht auf ihn, er wandte sich rasch um und ging an seinen Platz. Der Herr und die Dame flüsterten miteinander. Ich saß Posdnyschew gegenüber und schwieg, mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können.
Zum Lesen war es zu dunkel, ich schloss also die Augen und tat, als wollte ich schlafen. So fuhren wir schweigend bis zur nächsten Station.
Dort zogen der Herr und die Dame, die schon vorher mit dem Schaffner darüber verhandelt hatten, in einen anderen Wagen um. Der Kommis machte es sich auf der Sitzbank bequem und schlief ein. Posdnyschew aber rauchte immer noch und trank den Tee, den er an der letzten Station gekocht hatte.
Als ich die Augen aufschlug und ihn ansah, richtete er plötzlich das Wort an mich, entschlossen und gereizt:«Vielleicht ist es Ihnen unangenehm, in meiner Nähe zu sitzen, jetzt, da Sie wissen, wer ich bin? Ich kann auch gehen.»
«O nein, ich bitte Sie.»
«Dann darf ich Ihnen ein Glas Tee anbieten? Er ist allerdings recht stark.»Er schenkte mir ein.
«Gerede … nichts als Lügen …», sagte er.
«Was meinen Sie?», fragte ich.
«Immer noch dasselbe: die Liebe, von der diese Leute dauernd reden, und worum es dabei eigentlich geht. Sind Sie nicht müde?»
«Nicht im Mindesten.»
«Soll ich Ihnen erzählen, wie diese Liebe mich zu dem geführt hat, was mir passiert ist?»
«Wenn es Ihnen nicht zu schwerfällt.»
«Mir fällt das Schweigen schwer. Trinken Sie doch. Oder ist er zu stark?»
Der Tee war wirklich wie Bier, aber ich leerte mein Glas. In diesem Moment ging der Schaffner vorbei. Posdnyschew sah ihm böse nach und begann erst zu sprechen, als er fort war.
III
«Nun, dann will ich erzählen … Aber wollen Sie das wirklich hören?»
Sehr gern wolle ich das, sagte ich noch einmal. Er schwieg kurz und rieb sich das Gesicht, dann begann er:«Wenn, dann muss ich von Anfang an erzählen: davon, wie und weshalb ich geheiratet habe und was für ein Mensch ich vor meiner Heirat war.
Vor meiner Heirat lebte ich wie jeder andere auch, zumindest in unseren Kreisen. Ich bin Gutsbesitzer, studiert, ehemaliger Adelsmarschall. Vor meiner Heirat lebte ich wie jedermann, das heißt, ich führte ein lasterhaftes Leben, und wie jedermann
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