Kreuzigers Tod
ohne seine Augen kritisch zu verengen und mich scharf zu fixieren.
»Dann ist es doch fraglos so, dass der eine Berg mit dem anderen in einem formalen Zusammenhang steht, weil beide Berge durch ein und dieselbe Bewegung aus dem Erdinneren herausgedrückt worden sind. Wenn ich Sie nun aber naseweis fragen würde, wie dieser Zusammenhang denn genau aussieht, würden Sie dann nicht mit den Schultern zucken, auf Ihr Bild zeigen und sagen: So sieht er aus, so?«
»In der Tat.« Mannlechner lachte. »In der Tat, das würde ich. Ich male übrigens keine Gebirgsketten.«
»Ich weiß, dass der Wald Sie mehr interessiert.«
»Sind Sie wegen meiner Arbeiten gekommen?«
»Wer weiß. Möglicherweise wären Ihre Bilder für mich nicht uninteressant. Ich wollte mit Ihnen über den Morgen sprechen, an dem der Kreuziger erschlagen worden ist.«
Sein Gesicht wurde ausdruckslos.
»Wie Sie wollen«, sagte er. »Sie waren doch selbst zugegen an diesem Morgen.«
»Richtig, aber ich habe nicht alles gesehen. Ich bin zu spät gekommen.«»Ich auch.«
»Herr Mannlechner. Sie spazieren regelmäßig im Wald, nahezu täglich.«
»Täglich. Ich steh sehr früh auf, das ist der Brauch hier. Um fünf bin ich wach, wenn es fast noch Nacht ist, und das Erste, was ich mache, ist, auf den Balkon hinauszugehen und zu horchen und zu schauen, wie der Tag kommt. Die Ankunft des Tages, wenn feinste Lichtströmungen in der Luft liegen und die Dunkelheit zu vibrieren scheint, wie etwas, das Risse bekommt und langsam aufbricht. Und wenn die Dämmerung eindeutig geworden und der Morgen da ist, nehme ich das Frühstück ein und nach Sonnenaufgang verlasse ich mit der Zeichenmappe unterm Arm das Haus.«
»Wie spät ist es da? Sieben, acht?«
»Schon möglich, das hängt von der Jahreszeit ab, im Winter schlafe ich länger und im Sommer kürzer. Ich richte mich nach den Lichtverhältnissen und nicht nach der Uhrzeit.«
»Gut. Also, um diese Jahreszeit gehen Sie spätestens, sagen wir, um acht aus dem Haus. Zeichnen Sie gern bei wenig Licht?«
Er schien nicht zu verstehen, worauf ich hinauswollte.
»Nein, im Allgemeinen nicht. Schon um meine Augen zu schonen. Ein wenig Dunkelheit wäre an und für sich nicht so schlecht, weil sie den Fluss der Formen vereinfacht und klärt. Aber das ist ein Vorteil, den der Anfänger suchen sollte. Mein Stolz als Zeichner ist es, mich dem Wald mit offenem Visier zu stellen. Wissen Sie, um welche Tageszeit der Wald hier hinter meinem Haus am schwierigsten zu zeichnen ist?«
Seine Erörterungen interessierten mich aus einemganz anderen Grund, als er sich vorstellen konnte. Ich verneinte.
»Am späten Vormittag. Da ist es nämlich schon ziemlich hell, ohne dass die Sonne so hoch gestiegen ist, dass die Bäume mit ihren Ästen und Nadeln das Licht wegfiltern. Am späten Vormittag ist der Wald am besten ausgeleuchtet, weil die Strahlen schräg hereinkommen. Am frühen Morgen sind die Schatten zu lang und sorgen für eine vielleicht schöne Stimmung und Rhythmik im Bild, die aber nicht so schwer zu fassen ist. An einem Tag wie heute ist der Wald am gewaltigsten und am schwierigsten um, sagen wir, ich habe keine Uhr, zehn Uhr oder zehn Uhr dreißig, ja, das müsste ungefähr hinkommen.«
»Das heißt, vor zehn Uhr würden Sie kaum mit dem Zeichnen beginnen.«
»Kaum.«
»Gut. Die Mühlbacherin hat gesagt, dass sie die Leiche um Viertel nach zehn gefunden hat, und Sie sind ja erst zum Tatort gekommen, nachdem die Mühlbacherin schon wieder weg war, um den Mord zu melden. So haben Sie mir das zumindest gesagt. Der Weg von Ihrem Haus zum Fundort der Leiche kann bequem in einer Stunde zurückgelegt werden. Angenommen, Sie wären spätestens um acht aufgebrochen, dann müssten Sie den Tatort spätestens um neun erreicht haben, nachdem Sie ja mangels Licht um diese Tageszeit auf dem Weg nicht Halt gemacht haben, um zu zeichnen. Sie aber sagten, dass Sie erst, nachdem die Mühlbacherin wieder weg war, also gegen halb elf, den Tatort erreicht haben. Irgendwie stimmt das nicht zusammen.«
»Was soll diese Rechnerei, worauf wollen Sie hinaus?«
»Technisch gesprochen: Sie haben kein Alibi.«
»Vielleicht bin ich sehr langsam gegangen.«
»Noch etwas anderes ist mir aufgefallen. Als ich den Tatort erreichte, sind Sie dort in aller Seelenruhe gesessen und haben gezeichnet. Sie haben mir einmal erzählt, dass Sie für Ihre Zeichnungen viele Stunden brauchen, je älter Sie würden, desto länger. Sie seien ein unglaublich
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