Kreuzweg der Zeit
unsere eigene – in der er verlor?«
»Ja. Es gäbe auf diese Art Milliarden von Welten, die alle von verschiedenen Entscheidungen beeinflußt wurden. Und das nicht nur von den klar zutage tretenden Ereignissen wie Schlachten und politische Veränderungen, sondern auch von der Entdeckung und Anwendung gewisser Erfindungen. Eine faszinierende Annahme.«
Blake nickte. Gewiß, der Gedanke war interessant und bildete offenbar Saxtons Steckenpferd. Doch im Augenblick war er von dem Dilemma eines Blake Walker und dessen ›möglichen Welten‹ weit mehr in Anspruch genommen.
»Sogar innerhalb der vergangenen letzten Jahrzehnte gäbe es Punkte der Trennung«, fuhr der Mann auf der anderen Seite des Tisches fort. »Stellen Sie sich eine Welt vor, in der Hitler die Schlacht um England gewonnen und 1941 England überrannt hat. Oder: angenommen, ein großer Führer wird zu früh oder zu spät geboren.«
Blakes Interesse war geweckt. »Ich habe eine Kurzgeschichte über dieses Thema gelesen«, pflichtete er bei. »Ein britischer Diplomat trifft Anfang der neunziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts einen pensionierten Major der Artillerie, der in einem kleinen französischen Städtchen stirbt – ein zu früh geborener Napoleon.«
Saxton hatte seine Tasse abgestellt und beugte sich vor. »Angenommen, so ein Mann, in seiner Zeit und seiner Welt geboren, wäre imstande, sich von einer Möglichkeitswelt zur anderen zu bewegen: wäre er da nicht doppelt gefährlich? Angenommen, Sie wären in einem Zeitalter geboren, in dem die Gesellschaft Ihr besonderes Talent erstickt und Ihnen Ihrer Meinung nach nicht das richtige Betätigungsfeld gibt?«
»Dann müßte man eben dorthin gehen, wo man sein Talent anwenden kann.« Das war doch sonnenklar. Aber Saxton strahlte ihn an, als wäre er ein intelligenter Schüler, der eben ehrenvoll ein Examen hinter sich gebracht hatte. Hinter all dem mußte ganz entschieden etwas stecken – was aber? Blakes Warnsinn war zwar nicht alarmiert, aber er hatte das Gefühl, als würde er behutsam einen Pfad entlanggelenkt, den Saxton für ihn ausgesucht hatte – und zwar auf höheren Befehl.
»Das wäre doch eine gute Idee«, ergänzte Blake.
Diesmal war es nicht die richtige Antwort.
»Für Sie«, stieß Saxton hervor. »Aber vielleicht nicht für die Welt, in die Sie sich begeben. Diese stellt nämlich die andere Seite des Problems dar, nicht wahr? Hallo! Erskine! Kommen Sie und setzen Sie sich zu uns!«
»Noch Kaffee da?« Es war der schlanke Blonde. »Nein? Na, dann drücken Sie mal das Knöpfchen, Jas! Ich brauche was zum Aufmuntern nach diesem ruppigen Morgen.«
Als er sich in einen Sessel neben seinem älteren Kollegen fallenließ, lächelte er Blake zu. Sein Lächeln war wie ein Blitz, der die Langeweile aus seinem Gesicht fegte und seinen hübschen Zügen Wärme und Leben verlieh.
»Wir müssen jetzt hier rumhängen«, verkündete er. »Wo ist bloß die Zeitung, Jas? Ich möchte mir das Fernsehprogramm ansehen. Wenn wir uns schon hier vergraben müssen, dann sollten wir es uns wenigstens dabei gutgehen lassen.«
Er holte hinter dem Paneel eine Kanne mit frischem Kaffee hervor und tat in seine erste Tasse zwei gehäufte Löffel Zucker. Sie gingen ins Wohnzimmer zurück, und Erskine setzte sich vor den Fernsehapparat. In seinem Interesse an der üblichen Unterhaltungsart, die das Fernsehen bot, lag etwas Merkwürdiges – fast so, als wäre das Fernsehen für ihn ein neues Spielzeug. Als das Programm zu Ende war, seufzte er tief.
»Erstaunliche Anziehungskraft hat dieses primitive Zeug.«
Blake hatte diese gemurmelten Worte mitbekommen. Nun war aber nicht ein alter Film gezeigt worden, sondern eine Live-Produktion, die recht gut geraten war. Wieso also primitives Zeug? Hier deuteten hauchdünne Fäden auf etwas hin, was nicht stimmte. Ein Verdacht, durch Saxtons Tischgespräch hervorgerufen, huschte durch Blakes Bewußtsein, wurde aber von der Vernunft wieder verdrängt.
Für den Rest des Tages und Abends blieben sie ungestört, wobei man ohne Fenster gar nicht erkennen konnte, ob es Tag oder Nacht war. Erskine und Saxton spielten ein Kartenspiel, von dem Blake sicher war, es nie zuvor jemals gesehen zu haben. Sie langten bei den Mahlzeiten, die hinter dem Paneel hervorkamen, herzhaft zu, und Blake schmökerte in dem reichlich vorhandenen Lesematerial. Es war vom Inhalt her vorwiegend historisch oder biographisch. Hatte Saxton etwa die Absicht, über sein Hobby einen Artikel zu
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