Krieg und Frieden
mehr zu warten. Bleibe hier zu Tisch, wenn du willst!«
Peter traf den alten Grafen, welcher sehr verwirrt und betrübt aussah. Natalie hatte ihm an diesem Morgen gesagt, daß sie Bolkonsky einen Absagebrief geschrieben habe.
»Schlimm, schlimm, Freundchen«, sagte er zu Peter, »schlimm mit solchen Mädchen, wenn die Mutter nicht da ist. Wie tut es mir leid, daß ich hierhergekommen bin! Ich werde aufrichtig gegen Sie sein – haben Sie schon gehört, daß sie ihrem Bräutigam abgeschrieben hat, ohne jemand zu fragen? Ich war ja nie sehr erfreut über diese Verlobung! Zugestanden, er ist ein guter Mensch, aber gegen den Willen des Vaters zu heiraten, bringt kein Glück, und Natalie wird nicht ohne Bräutigam bleiben. Die Sache hat schon zu lange gedauert. Aber einen solchen Schritt zu tun, ohne Vater und Mutter zu fragen! Und jetzt ist sie krank! Gott weiß, wie das werden wird!«
Peter sah, daß der Graf ganz zerfahren war und bemühte sich, das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu lenken, aber der Graf kehrte immer wieder zu seinem Kummer zurück.
Sonja trat mit sorgenvoller Miene in den Saal.
»Natalie ist nicht ganz gesund, sie ist in ihrem Zimmer und wünscht Sie zu sehen«, sagte sie zu Peter. »Maria Dmitrijewna ist bei ihr und läßt Sie auch bitten.«
»Nun, Sie sind sehr befreundet mit Bolkonsky, wahrscheinlich will sie Ihnen einen Auftrag an ihn geben«, sagte der Graf. »Ach, mein Gott! Mein Gott! Wie schön war das alles!« Er faßte sich in seine dünnen grauen Haare und verließ das Zimmer.
Maria Dmitrijewna hatte Natalie mitgeteilt, daß Anatol verheiratet sei, aber Natalie wollte ihr nicht glauben und verlangte eine Bestätigung von Peter selbst; Dies teilte Sonja Peter mit, während sie ihn durch den Korridor nach dem Zimmer Natalies begleitete. Als Peter eintrat, begegnete er dem fieberhaft glänzenden, fragenden Blick Natalies. Sie lächelte nicht und nickte ihm nicht zu wie früher, sondern sah ihn nur starr an, und ihr Blick fragte nur eins, ob er ein Freund Anatols sei oder eben solch ein Feind wie alle anderen. Sonst schien er nicht für sie zu existieren.
»Er weiß alles, er wird dir sagen, ob ich die Wahrheit gesprochen habe«, sagte Maria Dmitrijewna. Wie ein verwundeter Hirsch nach den Hunden und Jägern blickt, sah Natalie bald Maria Dmitrijewna, bald Peter an.
»Natalie Ilitschna«, begann Peter mit gesenkten Augen, voll Mitleid und voll Widerwillen gegen die Operation, die er ausführen sollte, »ob es wahr ist oder nicht wahr, das muß für Sie ganz gleichgültig sein, denn ...«
»Es ist also nicht wahr, daß er verheiratet ist?«
»Doch, es ist wahr.«
»Ist er schon lange verheiratet?« fragte sie. »Ihr Ehrenwort!«
Peter gab ihr sein Ehrenwort.
»Ist er noch hier?« fragte sie hastig.
»Ja, ich habe ihn soeben gesehen.«
Sie war nicht imstande zu sprechen und machte mit den Händen ein Zeichen, man solle sie allein lassen.
130
Peter blieb nicht zu Tisch und machte sich sogleich auf den Weg, um Anatol zu suchen. Er suchte ihn lange vergebens an den verschiedensten Stellen und fuhr endlich in den Klub. Auch hier war Anatol nicht, und Peter erwartete ihn lange Zeit vergeblich, dann speiste er und fuhr nach Hause.
Währenddessen beriet sich Anatol mit Dolochow, wie man die mißlungene Geschichte wieder in Gang bringen könne. Es schien ihm unumgänglich nötig, Natalie zu sehen. Abends fuhr er zu seiner Schwester, um sie zu überreden, ihm dabei behilflich zu sein. Als Peter nach Hause kam, meldete ihm der Diener, Fürst Anatol sei bei der Gräfin. Der Salon war voll Gäste.
Ohne seine Frau zu begrüßen, die er seit seiner Rückkehr nicht gesehen hatte, und die er in diesem Augenblick mehr als jemals verabscheute, trat er in den Saal, wo er Anatol fand und ging sogleich auf ihn zu.
Die Gräfin kam ihm entgegen. »Ah, Peter!« sagte sie. »Du weißt nicht, in welchem Zustand sich unser Anatol befindet!« Sie stutzte beim Anblick seines gesenkten Kopfes, seiner glänzenden Augen, seines entschiedenen Gangs und jenes schrecklichen Ausdrucks der Wut und Kraft, den sie nach dem Duell mit Dolochow kennengelernt hatte.
»Wo Sie sind, da ist auch Verworfenheit und Laster!« erwiderte er seiner Frau. »Anatol, kommen Sie, ich muß mit Ihnen sprechen«, sagte er französisch. Anatol blickte sich nach seiner Schwester um und stand gehorsam auf. Peter ergriff seine Hand und zog ihn an sich, um das Zimmer zu verlassen.
»Wenn Sie sich erlauben, in meinem Salon ...«
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