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Krieg und Frieden

Krieg und Frieden

Titel: Krieg und Frieden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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schweigend und hilfesuchend um sich und schienen nicht zu begreifen und nicht daran zu glauben, was vorging.
    Peter wandte sich ab, aber wieder hörte er ein entsetzliches Krachen. Eine Rauchwolke erhob sich, wieder sah er die bleichen, erschrockenen Gesichter der Franzosen, welche hastig bei der Säule einander drängten. Auf allen Gesichtern der Russen, der französischen Soldaten sowie der Offiziere las er dasselbe Entsetzen, das in seinem Herzen herrschte. »Wer tut das?« fragte er sich. »Alle leiden darunter ebenso wie ich! Wer, wer aber tut das?«
    »Die Schützen des sechsundachtzigsten Regiments vor!« wurde gerufen. Man führte den fünften, der neben Peter stand, an die Säule, aber allein. Peter begriff nicht, daß er gerettet sei, daß er und alle übrigen hierhergeführt worden waren, nur um bei der Hinrichtung zugegen zu sein. Er beobachtete immer noch mit Entsetzen, ohne Freude oder Beruhigung zu empfinden, das, was vorging. Der fünfte war der Fabrikarbeiter. Als man auf ihn zukam, sprang er entsetzt zurück und hielt sich an Peter fest. Peter fuhr zusammen und riß sich los von ihm. Der Fabrikarbeiter konnte nicht gehen, sie hielten ihn unter den Armen, und er rief etwas. Aber als er an die Säule geführt wurde, verstummte er, als ob er plötzlich begriffen hätte, daß es vergeblich sei, zu schreien, oder daß es unmöglich sei, daß man ihn töten werde. – Er stand wartend bei dem Pfahl und blickte sich mit funkelnden Augen um.
    Peter vermochte nicht, sich umzuwenden und die Augen zu schließen, die Neugierde und Aufregung erreichten bei ihm und allen Zuschauern bei diesem fünften Mord die höchste Stufe. Wie die anderen benahm sich auch dieser fünfte ruhig. Er zog die Schöße seines langen Rocks zusammen und rieb mit dem einen bloßen Fuß den anderen. Als man ihm die Augen verband, zog er selbst den Knoten im Genick zur Seite, der ihn einschnitt. Als man ihn an die blutige Säule stellte, suchte er selbst eine bequeme Stellung und lehnte sich ruhig zurück. Peter konnte keinen Blick von ihm abwenden.
    Wahrscheinlich ertönte ein Kommando, wahrscheinlich folgten auf das Kommando die Schüsse aus acht Gewehren, aber Peter vermochte sich nicht mehr daran zu erinnern. Er sah nur, wie der Fabrikarbeiter sich in den Stricken fing, wie an zwei Stellen Blut hervortrat, wie die Stricke wegen der Schwere seines Körpers nachgaben, und der Fabrikarbeiter mit tief herabhängendem Kopf und untergebogenen Beinen in eine sitzende Stellung hinabglitt. Peter eilte an die Säule, und niemand hielt ihn zurück. Um den Fabrikarbeiter waren Leute mit bleichen, entsetzten Gesichtern beschäftigt. Einem alten, bärtigen Franzosen zitterte die Kinnlade, als er die Stricke losband. Die Leiche fiel nieder, und die Soldaten zogen sie hastig zur Grube. Alle wußten augenscheinlich, daß sie Verbrecher waren und so schnell wie möglich die Spuren ihres Verbrechens beseitigen mußten. Peter blickte in die Grube und sah, daß der Fabrikarbeiter dort mit den Knien nach oben, nahe zum Kopf heraufgezogen lag, die eine Schulter zuckte krampfhaft. Aber schon wurde Erde hineingeschaufelt. Einer der Soldaten schrie Peter zornig an, er solle sich packen, aber Peter verstand ihn nicht und blieb an der Säule stehen, von wo ihn niemand vertrieb.
    Als die Grube zugeschaufelt war, hörte er ein Kommando. Peter wurde an seinen Platz geführt, und die französischen Soldaten, die in zwei Reihen zu beiden Seiten der Säule standen, machten eine halbe Wendung und gingen mit gemessenen Schritten an dem Pfahl vorüber. Vierundzwanzig Schützen, welche in der Mitte des Kreises standen, kehrten im Lauf an ihre Stellen zurück, während die Abteilung an ihnen vorüberging.

217
    Nach der Hinrichtung wurde Peter von den anderen Gefangenen getrennt und blieb allein in einer kleinen, zerstörten und halb verbrannten Kirche. Gegen Abend kam ein Unteroffizier mit zwei Soldaten und teilte Peter mit, er sei begnadigt und komme jetzt in die Baracken der Kriegsgefangenen. Ohne zu begreifen, was man ihm sagte, stand Peter auf und ging mit den Soldaten. Man führte ihn in einen Verschlag, der aus halb verbrannten Brettern und Balken aufgeführt war. In der Dunkelheit umgaben Peter etwa zwanzig verschiedene Menschen. Peter sah sie an, ohne zu begreifen, was das für Leute seien und was sie von ihm wollten. Er vernahm die Worte, die sie zu ihm sprachen, ohne sie zu begreifen. In diesem Verschlag, in dem Peter vier Wochen zubrachte, waren dreiundzwanzig

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