Kriegsgebiete
Übermacht
gesiegt.«
»Wow.
Ein geschichtsinteressierter Versager. Du hast deine Kameraden neben
dir verrecken lassen. Du warst kein Täter. Kein Opfer. Nur ein
Zeuge. Ein Zeuge ist nichts. Verachtenswert. Jetzt musst du irgendwas
sein. Bist du dazu bereit?«
»Ja,
ich bin bereit.«
»Du
versuchst dir immer noch eine Hintertür offenzuhalten.«
Ȇberhaupt
nicht.«
»Überprüfen
wir mal, wie bereit du bist.«
Rainer
stand mit dem Messer hinter Maik. So breitbeinig, wie die Taliban in
ihren Videobotschaften hinter ihren Geiseln stehen. Daniel rechnete
mit einer Botschaft in einem monotonen Singsang, aber eine verbale
Botschaft blieb aus. Stattdessen eine schnelle Bewegung mit dem
Messer. Maik schrie wie ein verwundetes Tier. Er hielt beide Hände
an eine Seite seines Kopfs. Rainer schmiss das Ohr in Daniels
Richtung. Auf halbem Weg zwischen Maik und ihm blieb es liegen. Blut
lief über Maiks nackte Brust. Von dort tropfte es auf den
Betonboden.
»Ich
bin bereit!«, brüllte Daniel.
»Gut.«
»Was
soll ich tun?«
»Heb
das Ohr auf«, befahl Rainer.
Daniel
ging durch die Halle und hob das Ohr mit Daumen und Zeigefinger auf.
»Schau
es dir an.«
Daniel
senkte seinen Blick. Ein menschliches Ohr. Maiks Ohr. Er wusste,
warum Rainer das gemacht hatte. In großen Lettern stand Entmenschlichung an den Betonwänden. Ein Graffito der
Grausamkeit. An der Form ihrer Ohren, den jeweiligen Vertiefungen und
Erhebungen, kann man Menschen erkennen. Die Ohrmuschel ist ähnlich
individuell wie ein Fingerabdruck. Die Formen und Größen
der Ohrmuscheln sind auch für den optischen Gesamteindruck des
Gesichts auf den Betrachter von oft unterschätzter Bedeutung. Er
hatte Maik entstellt. Und ihn dort getroffen, wo es ihm am meisten
wehtat: Das Klangerlebnis beim Musikhören. Rainer hatte keinen
Zweifel daran gelassen, dass er bereit war, auch Lea etwas Ähnliches
anzutun. Etwas, das sie nicht nur physisch verletzen, sondern
nebenbei auch noch die Seele rauben würde. Das Ohr zwischen
Daniels Fingern fühlte sich seltsam unbestimmt an. Wie eine
Packung Gummibären.
»Und
jetzt?«, fragte Daniel. »Ich hab’s mir lange genug
angeschaut.«
Rainer
holte die Pistole aus dem Holster und hielt sie Maik an den Kopf.
»Bring
es zu mir.«
Daniel
ging ein paar Meter nach vorn. Obwohl es ihn anekelte, streckte er
Rainer seine Hand entgegen. Er mochte das Ohr, er wollte es retten,
aber den ausgestreckten Arm fand er entwürdigend.
»Leg
es vor mir auf den Boden.«
Daniel
legte das Ohr ab. Dabei ließ er seinen Feind nicht aus den
Augen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal
einen Feind hatte, dessen Gesicht er kannte. Vielleicht in der
Grundschule. Rainer spuckte auf das Ohr. Dann setzte er seinen
Stiefel darauf und zerquetschte es wie einen Zigarettenstummel. Er
trat Maik mit der Profilsohle in den Rücken. Maik blieb wimmernd
vor Daniel liegen. Überall Blut. Rainer ging einen Schritt
zurück. Er holte ein Paar Handschellen aus einer Tasche seines
Kampfanzugs.
»Hier«,
sagte Rainer und warf die Handschellen Daniel zu. »Fessle ihn
an die Treppe der Schredderanlage.«
Daniel
half Maik auf. Einen Moment sah er seine Augen. Maik weinte.
»Danach
kommt dein großer Auftritt, Daniel. Ich habe oben an der
Plattform der Maschine ein Bergsteigerseil für dich befestigt.
Ein gut gebundener Ankerstichknoten. Und eine noch besser geknüpfte
Schlinge. Wie aus dem Lehrbuch. Du wirst dich damit erhängen.
Ein sauberer Selbstmord. Ich habe es ausgemessen: Du wirst ein paar
Zentimeter über dem Boden baumeln.«
Daniel
schleppte Maik zur Treppe. Es fühlte sich seltsam an, die nackte
Haut seines Freundes an unbekannten Körperstellen zu spüren.
»Der
bringt uns alle um«, flüsterte Maik.
Daniel
schloss die Handschelle um Maiks Handgelenk so locker es ging. Er
würde sich trotzdem auf keinen Fall losmachen können. Als
er die andere Fessel der Handschelle am Treppengeländer
anbrachte, gab es ein lautes metallenes Geräusch. Es klang
endgültig. Maik versuchte, mit der freien Hand seinen Blutfluss
zu stoppen. Ohne Erfolg. Das Blut quoll zwischen den Fingerritzen
hervor. Daniel war schon in Afghanistan darüber erstaunt
gewesen, wie viel Blut in einen Menschen passte. Natürlich war
es trotzdem nie genug.
»Gut
gemacht«, sagte Rainer freundlich. »Und jetzt kommen wir
zur Hauptattraktion. Du gehst die Treppe hoch, bindest dir die
Schlinge um den Hals und springst nach unten. Das war’s dann
für dich. Ein
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