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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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benachbarten Kaserne auf ihre Behandlung warteten; und jene, die nicht mehr zu retten waren und in einem Pflegeheim von Sanitätern, Krankenschwestern und Priestern bis zu ihrem Tod betreut wurden. 22
    In seiner Skizze »Sewastopol im Dezember« führt Tolstoi die Leser in den großen Saal:
    Sie betreten den großen Saal des Klubs. Kaum haben Sie die Tür geöffnet, sind Sie sofort von dem Anblick und dem Geruch von vierzig oder fünfzig amputierten und schwerverwundeten Kranken betroffen, die zum Teil in Betten, meist jedoch auf dem Fußboden liegen …
    Wenn Sie starke Nerven haben, können Sie sich nun links durch die Tür in den angrenzenden Raum begeben: dort werden Verbände angelegt und Operationen ausgeführt. Ärzte mit blutbefleckten Armen bis zum Ellbogen und mit bleichen, finsteren Gesichtern machen sich an einer Pritsche zu schaffen, auf der mit geöffneten Augen ein Verwundeter liegt und, vom Chloroform betäubt, sinnlose, mitunter ganz alltägliche und zu Herzen gehende Worte stammelt. Die Ärzte sind mit dem widerwärtigen, doch wohltätigen Werk des Amputierens beschäftigt. Sie sehen, wie das scharfe gekrümmte Messer in den gesunden weißen Körper eindringt; sehen, wie der Verwundete unter fürchterlichen, herzzerreißenden Schreien und Verwünschungen plötzlich zu Bewußtsein kommt; sehen, wie der Feldscher den amputierten Arm in eine Ecke wirft; sehen, wie ein anderer Verwundeter, der im selben Zimmer auf einer Tragbahre liegt und die Operation seines Kameraden beobachtet, stöhnt und sich krümmt, nicht so sehr vor körperlichem Schmerz als infolge der seelischen Tortur der Erwartung. Sie sehen hier grauenvolle, die Seele erschütternde Bilder, sehen den Krieg nicht in seinem geordneten, schönen und glänzenden Gewande, mit Musik, Trommelwirbel, wehenden Fahnen und auf ihren Pferden paradierenden Generälen, sondern in seiner wirklichen Gestalt – mit Blut, Qualen und Tod … 23
    Der Gebrauch von Anästhetika ermöglichte Pirogow und seinem Ärzteteam, extrem schnell zu arbeiten und innerhalb eines Siebenstundentages über hundert Amputationen durchzuführen, indem sie an drei Tischen zugleich operierten (Kritiker sprachen von einem »Fabriksystem«). Er entwickelte eine neue Art der Fußamputation am Knöchel, bei der er einen Teil des Fersenbeins zurückließ, um den Beinknochen zu stärken. Überhaupt setzte er bei seinen Amputationen den Schnitt viel tiefer an als die meisten anderen Ärzte, um das Trauma und den Blutverlust, die, wie er wusste, die größte Bedrohung darstellten, zu vermindern. Vor allem kannte er die Infektionsgefahren (die er auf verseuchte Dämpfe zurückführte) und achtete darauf, postoperative Patienten mit sauberen Wunden von denen zu trennen, die Eiter absonderten und möglicherweise Wundbrand entwickelten. Durch all diese Pioniermaßnahmen erzielte Pirogow eine viel höhere Überlebensrate als die Briten oder Franzosen: bis zu 65 Prozent für Armamputationen. Bei Schenkelamputationen, den gefährlichsten und häufigsten bei den Heeren des Krimkriegs, konnte Pirogow ungefähr 25 Prozent der Patienten retten, wohingegen in britischen und französischen Krankenhäusern nur einer von zehn die Operation überlebte. 24
    Die Briten benutzten Anästhetika viel weniger bereitwillig als die Russen und Franzosen. Kurz bevor die britische Armee aus Warna zur Krim aufbrach, gab Generalstabsarzt John Hall ein Memorandum heraus, in dem er die Armeeärzte »vor der Verwendung von Chloroform gegen den starken Schock infolge schwerer Schussverletzungen« warnte, »denn wie barbarisch es erscheinen mag, ist der Schmerz des Messers doch ein mächtiges Stimulans; und es ist viel besser, einen Mann kräftig brüllen zu hören, als zu sehen, wie er schweigend ins Grab sinkt«. Die britische medizinische Meinung war gespalten, was die neue Wissenschaft der Anästhesie betraf. Manche Ärzte fürchteten, der Gebrauch von Chloroform werde die Genesungsfähigkeit des Patienten beeinträchtigen, und andere glaubten, es sei unpraktisch für die Schlachtfeldchirurgie, da es nicht genug qualifizierte Ärzte für die Verabreichung gebe. Solche Ansichten waren eng verknüpft mit den Vorstellungen von Leidensfähigkeit, die möglicherweise mit dem britischen Männlichkeitsgefühl ( »stiff upper lip« ) zusammenhingen. Der Gedanke, dass der britische Soldat immun gegen Schmerz sei, war verbreitet. So behauptete ein auf der Krim dienender Arzt:
    Den Schneid des Soldaten hat noch niemand

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