Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
Feldoperationen unter Narkose vornahm. Zwischen 1847 und 1852 berichtete Pirogow in mehreren russischen Zeitschriften über die Vorzüge von Äther, doch wenige Ärzte außerhalb Russlands erfuhren von seinen Artikeln. Pirogow betonte, dass Äther nicht nur der Linderung von Schmerz und Schock durch Anästhesie dienen könne, sondern auch, wenn er den Verwundeten schon bei der Ankunft im Krankenhaus verabreicht werde, die Patienten ruhig halte und einen Kollaps verhindere, so dass der Chirurg eine bessere Auswahl zwischen den Fällen, die dringend oder weniger dringend einer Operation bedürften, treffen könne. Dieses System der Triage, das Pirogow im Krimkrieg als Erster einsetzte, ist als seine größte Leistung zu bewerten.
Pirogow traf im Dezember 1854 auf der Krim ein. Er war empört über das Chaos und die unmenschliche Behandlung, die den Kranken und Verwundeten widerfuhr. Tausende von verletzten Soldaten waren bei eisigen Temperaturen in offenen Wagen nach Perekop evakuiert worden; viele trafen tot ein oder hatten erfrorene Gliedmaßen, die man amputieren musste. Andere blieben aus Mangel an Transportmitteln in schmutzigen Scheunen oder am Straßenrand zurück. Zudem herrschte eine chronische Knappheit an Sanitätsartikeln, nicht zuletzt aufgrund von Korruption. Ärzte verkauften Medikamente und verabreichten ihren Patienten billigere Ersatzstoffe oder verlangten Bestechungsgelder für eine angemessene Behandlung. Auch waren die Krankenhäuser der enormen Zahl von Verwundeten nicht gewachsen. Zur Zeit der alliierten Landungen hatten die Russen Krankenhausplätze für 2000 Soldaten auf der Krim, doch nach der Schlacht an der Alma mussten 6000 und nach Inkerman doppelt so viele Verwundete versorgt werden. 20
Die Verhältnisse in den Krankenhäusern von Sewastopol waren schlicht entsetzlich. Zwei Wochen nach der Schlacht an der Alma besuchte der Arzt von Chodasiewicz’ Regiment das Marinelazarett:
Das Gebäude war voll von Verwundeten, denen man seit dem Tag an der Alma keine Verbände angelegt hatte – außer denen, die aus ihren eigenen zerfetzten Hemden hergestellt worden waren. Sobald er den Raum betrat, wurde er von einer Schar dieser kläglichen Geschöpfe umringt, die ihn als Arzt erkannt hatten. Einige hielten ihm ihre in schmutzige Lumpen gewickelten Armstümpfe hin und baten ihn laut um Hilfe. Der Gestank war furchtbar.
Die meisten Ärzte in diesen Krankenhäusern waren schlecht ausgebildet und glichen nach Einschätzung eines russischen Offiziers eher »Dorfhandwerkern«. Sie führten Operationen schlecht und recht mit schmutzigen Schlachtermessern aus und wussten wenig über die Notwendigkeit von Hygiene oder über Infektionsgefahren. Pirogow entdeckte Amputierte, die seit Wochen in ihrem Blut lagen. 21
Sofort nach seiner Ankunft in Sewastopol sorgte Pirogow für Ordnung in den Krankenhäusern und führte allmählich sein Triagesystem ein. In seinen Memoiren beschreibt er, wie er darauf kam. Als er die Leitung des größten Krankenhauses in der Adelsversammlung übernahm, herrschten chaotische Verhältnisse. Nach schweren Bombardements wurden die Verwundeten völlig ungeordnet angeliefert: Sterbende zusammen mit denen, die dringend behandelt werden mussten, und mit nur leicht Verletzten. Anfangs widmete sich Pirogow den am schwersten Verwundeten, sobald sie eintrafen, und befahl den Krankenschwestern, sie unverzüglich zum Operationstisch bringen zu lassen. Aber während er sich auf einen Fall konzentrierte, wurden mehr und mehr Schwerverwundete angeliefert, und er konnte die Situation nicht bewältigen. Zu viele Menschen starben unnötigerweise, bevor sie behandelt werden konnten, während er Patienten operierte, die ohnehin nicht zu retten waren. »Ich sah ein, dass dies unsinnig war, und beschloss, energischer und rationaler vorzugehen«, schrieb er. »Um Leben zu retten, kam es viel weniger auf medizinische Tätigkeit als auf die schlichte Organisation des Verbandsplatzes an.« Seine Lösung war eine einfache Form der Triage, die er zum ersten Mal während der Beschießung von Sewastopol am 20. Januar in die Praxis umsetzte. Die Verwundeten wurden im großen Saal der Adelsversammlung als Erstes in Gruppen eingeteilt, um die Reihenfolge und Priorität der Notversorgung festzulegen. Es gab drei Hauptgruppen: die Schwerverwundeten, die man retten konnte und die so rasch wie möglich in einem separaten Raum operiert wurden; die Leichtverwundeten, die eine Nummer erhielten und in der
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