Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
Volkes im Krimkrieg wider. Geschrieben zwischen 1862 und 1865, in den Jahren unmittelbar nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, als die russische liberale Gesellschaft von den Idealen der nationalen Reform und der Versöhnung zwischen den Grundbesitzern und dem Bauerntum inspiriert wurde, war Krieg und Frieden ursprünglich als Dekabristenroman in der Zeit nach dem Krimkrieg geplant. In der frühen Form des Romans (»Der Dekabrist « ) kehrt der Held nach dreißigjähriger Verbannung aus Sibirien in das intellektuelle Milieu der späten 1850er Jahre zurück. Eine zweite alexandrinische Herrschaft hat gerade mit der Thronbesteigung Alexanders II . begonnen, und erneut, wie im Jahr 1825, macht man sich große Hoffnungen auf Reform. Doch je mehr Tolstoi über die Dekabristen recherchierte, desto klarer wurde ihm, dass ihre geistigen Wurzeln im Krieg von 1812 lagen, weshalb er seine Romanhandlung in diese Zeit verlegte.
Die Erinnerung an 1812 war nach dem Krimkrieg, der eine neue Perspektive auf den Nationalcharakter eröffnet hatte, heftig umstritten. Demokraten wie Tolstoi, angeregt durch die nicht lange zurückliegenden Opfer der russischen Bauernsoldaten, sahen den Konflikt von 1812 als Volkskrieg, in dem der Sieg durch den patriotischen Geist der ganzen Nation errungen wurde. Für Konservative dagegen stand 1812 für den heiligen Triumph des russischen autokratischen Prinzips, das allein Europa vor Napoleon gerettet habe.
Das Gedenken an den Krimkrieg war von einem ähnlichen ideologischen Konflikt betroffen. Konservative und Kirchenführer sprachen von einem heiligen Krieg, der Erfüllung der göttlichen Mission Russlands, die Rechtgläubigkeit im größeren Rahmen der Welt zu verteidigen. Sie behaupteten, dieses Ziel sei durch die internationale Erklärung zum Schutz der Christen im Osmanischen Reich erreicht worden sowie durch den Pariser Vertrag, der, wie von den Russen gefordert, den Status quo der heiligen Stätten in Jerusalem und Bethlehem bewahrt habe. In ihren Schriften und Predigten über den Krieg bezeichneten sie die Verteidiger der Krim als selbstlose und mutige christliche Soldaten, die ihr Leben als Märtyrer für das »russische heilige Land « geopfert hätten. Erneut betonten sie die Heiligkeit der Krim, auf der das Christentum erstmals in Russland erschienen sei. Seit dem Moment des Kriegsendes hatte die Monarchie versucht, das Gedenken daran mit der Erinnerung an 1812 zu verbinden. Der Besuch des Zaren in Moskau nach der Kapitulation von Sewastopol wurde als Wiederholung des dramatischen Auftritts von Alexander I. in der früheren russischen Hauptstadt im Jahr 1812 inszeniert, als riesige Mengen von Moskowitern ihn begrüßt hatten. Nun, im Jahr 1856, verschob der Zar seine Krönung bis zum Jahrestag der Schlacht von Borodino, des russischen Sieges über Napoleon im September 1812. Es war ein symbolischer Akt, welcher die schmerzliche Niederlage im Krimkrieg aufwiegen und das Volk aufgrund einer glorreicheren Erinnerung mit der Monarchie wiedervereinigen sollte. 27
Für die demokratischen Intelligenzlerkreise, zu denen Tolstoi gehörte, bestand die Verbindung des Krimkriegs mit 1812 jedoch nicht in der heiligen Mission des Zaren, sondern in dem patriotischen Opfer der russischen Menschen, die ihr Leben für die Verteidigung ihrer Heimat gegeben hatten. Allerdings war dieses Opfer schwer zu messen, denn niemand wusste, wie viele Soldaten gefallen waren. Genaue Zahlen über die russischen Verluste wurden nie gesammelt, oder aber sie wurden von den zaristischen Militärbehörden verzerrt oder verschleiert. Die Schätzungen der im Krimkrieg gefallenen Russen liegen zwischen 400 000 und 600 000 für sämtliche Kriegsschauplätze. Die medizinische Abteilung des Kriegsministeriums veröffentlichte später eine Zahl von 450 015 Toten in den vier Jahren von 1853 bis 1856. Dies ist vermutlich die beste Schätzung. 28 Ohne konkrete Zahlen nahm das Opfer des Volkes in der demokratischen Vorstellung allerdings einen mythischen Status an.
Sewastopol selbst wurde im kollektiven Gedächtnis zu einer gleichsam heiligen Stätte erhoben. Die Verehrung der gefallenen Helden der Belagerung begann unmittelbar nach Kriegsende, nicht auf Initiative der Regierung und offizieller Kreise, sondern durch Schritte der Allgemeinheit: Familien und Gruppen von Veteranen ließen mit öffentlichen Spendengeldern Monumente errichten, Kirchen gründen, Friedhöfe anlegen und Wohltätigkeitsfonds stiften. Den Mittelpunkt dieses
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