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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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Bedingungen im Schmutz hausen und ununterbrochen arbeiten und wachsam sein müssen. Um einer Auszeichnung, einer Beförderung willen oder infolge von Drohungen können sich Menschen solchen Bedingungen nicht unterwerfen: es muß einen anderen, höheren Beweggrund geben. Dieser Beweggrund liegt in einer Empfindung, die bei Russen selten offen zutage tritt und schamhaft verborgen bleibt, aber in der Tiefe der Seele eines jeden ruht: in der Liebe zur Heimat. Die Berichte über die erste Zeit der Belagerung Sewastopols, als noch keine Befestigungen und keine Truppen vorhanden waren und faktisch keine Möglichkeit bestand, es zu halten, aber dennoch nicht der geringste Zweifel darüber aufkam, daß eine Kapitulation unmöglich sei; über die Zeit, als Kornilow, ein des alten Griechenlands würdiger Held, bei einer Truppenbesichtigung sagte: »Wir wollen sterben, Brüder, aber Sewastopol nicht übergeben !« und unsere Russen, denen keinerlei Phrasenmacherei liegt, darauf antworteten: »Wir wollen sterben! Hurra !« – Diese Berichte haben erst jetzt aufgehört, für Sie bloß eine schöne historische Überlieferung zu sein, und sind zu einem unumstößlichen Zeugnis von Tatsachen geworden. Jetzt begreifen Sie die Menschen, die Sie soeben gesehen haben, und stellen sie sich klar als junge Helden vor, die in schwerer Zeit nicht verzagt haben, sondern sich gehobenen Mutes und mit Freude auf den Tod vorbereiteten – nicht nur für die Stadt, sondern für das Vaterland. Noch für lange Zeit wird diese Epopöe Sewastopols, deren Held das russische Volk war, in Rußland ihre erhabenen Spuren hinterlassen … 24
    Das »Epos von Sewastopol « ließ die Niederlage zu einem nationalen Triumph für Russland werden. »Sewastopol ist gefallen, doch so ruhmvoll, dass die Russen stolz auf solch einen Fall sein sollten, der so viel wert ist wie ein glänzender Sieg « , schrieb ein ehemaliger Dekabrist. 25 Auf dieser erhabenen Niederlage bauten die Russen einen patriotischen Mythos auf, eine nationale Identität des selbstlosen Heldentums, der Widerstandskraft und Opferbereitschaft des Volkes. Dichter zogen Parallelen zum patriotischen Geist von 1812 – etwa Alexej Apuchtin in seiner bekannten Ballade »Ein Soldatenlied über Sewastopol « (1869), die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von vielen russischen Schuljungen auswendig gelernt werden sollte:
    Das Lied, das ich euch singe, Männer, ist kein frohes;
    Es ist kein mächtig’ Lied des Sieges
    Wie’s unsere Väter sangen bei Borodino
    Und unsere Großväter bei Otschakow.
    Ich singe zu euch, wie eine Staubwolke
    Wirbelte auf von den südlichen Feldern,
    Wie zahllose Feinde die Schiffe verließen
    Und wie sie kamen und uns besiegten.
    Aber derart war die Niederlage, dass sie
    Seither nicht zurückgekommen sind, um Streit zu suchen;
    Derart war unsere Niederlage, dass sie davonfuhren
    Mit finsteren Mienen und platten Nasen.
    Ich singe davon, wie der reiche Gutsbesitzer
    Heim und Herd verließ und sich der Miliz anschloss,
    Wie sich der Bauer von seiner Frau verabschiedete
    Und aus seiner Hütte kam, um freiwillig zu dienen.
    Ich singe davon, wie die mächtige Armee wuchs,
    Denn Krieger kamen, stark wie Eisen und Stahl,
    Die wussten, dass sie in den Tod gingen,
    Und wie fromm sind sie gestorben!
    Davon, wie unsere schönen Frauen als Krankenschwestern
    Davonzogen, um ihr trübes Los zu teilen,
    Und wie für jeden Zoll unseres russischen Bodens
    Unsere Feinde mit ihrem Blut bezahlten.
    Davon, wie durch Rauch und Feuer, unterm Donnern
    Von Granaten und unter schwerem Stöhnen allerorten,
    Redouten erschienen eine nach der anderen,
    Wie die Bastionen wuchsen, grimmigen Gespenstern gleich –
    Und elf Monate dauerte das Gemetzel,
    Und in all den elf Monaten wurden
    In der wunderbaren Festung, die Russland schützte,
    Ihre mutigen Söhne beerdigt …
    Lasst das Lied, das ich singe, nicht fröhlich sein.
    Nicht weniger ruhmvoll ist’s als das Siegeslied,
    Das unsere Väter sangen bei Borodino
    Und unsere Großväter bei Otschakow. 26
    Dies war der Kontext, in dem Tolstoi sein eigenes »nationales Epos « Krieg und Frieden schrieb. Seine Auffassung vom Krieg gegen Napoleon als nationalem Erwachen Russlands – die Neuentdeckung »russischer Prinzipien « durch den europäisierten Adel und die Anerkennung des patriotischen Geistes der leibeigenen Soldaten als Grundlage einer demokratischen nationalen Identität – spiegelte seine Reaktion auf die Heldentaten des russischen

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