Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
hohe und wachsende Zahl russischer Pilger zu betreuen.
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts schickte die russisch-orthodoxe Kirche mehr Pilger nach Jerusalem als jede andere Konfession des christlichen Glaubens. Alljährlich trafen bis zu 15000 russische Pilger zum Osterfest in Jerusalem ein; manche von ihnen legten sogar eine lange Fußwanderung durch Russland und den Kaukasus, durch Anatolien und Syrien zurück. Für die Russen waren die heiligen Stätten Palästinas Gegenstand tiefer und leidenschaftlicher Hingabe: Die Pilgerreise dorthin war die höchstmögliche Ausdrucksform ihres Glaubens.
In mancher Hinsicht betrachteten die Russen das Heilige Land als einen Teil ihrer religiösen Heimat. Die Idee des »heiligen Russland« wurde nicht durch territoriale Grenzen eingeengt; es war ein Reich der Rechtgläubigen, mit Sanktuarien in sämtlichen Gebieten der östlichen Christenheit und mit der Grabeskirche als Mutterkirche. »Palästina«, schrieb ein russischer Theologe in den 1840er Jahren, »ist unser Heimatland, in dem wir uns nicht als Ausländer empfinden.« 4 Seit Jahrhunderten stattfindende Pilgerreisen hatten die Grundlage für diesen Anspruch geschaffen und somit eine Verbindung zwischen der russischen Kirche und den heiligen Stätten (gekennzeichnet durch das Leben Christi in Bethlehem, Jerusalem und Nazareth), die viele Russen für wichtiger – für das Fundament einer höheren spirituellen Autorität – hielten als die säkulare und politische Oberhoheit der Osmanen in Palästina.
Nichts von dieser Inbrunst war den Katholiken oder Protestanten eigen, für die die heiligen Stätten Gegenstand historischen Interesses und romantischer Empfindungen, nicht jedoch der religiösen Hingabe waren. Der Reiseschriftsteller und Historiker Alexander Kinglake meinte: »Wenn die lateinische Kirche überhaupt so etwas wie einen Pilger zu bieten hatte, dann oftmals nur einen französischen Touristen mit einem Journal und einer Theorie sowie einem Plan, ein Buch zu schreiben.« Europäische Touristen fühlten sich von der tiefen Leidenschaft orthodoxer Pilger abgestoßen, deren seltsame Rituale ihnen als »barbarisch« und als »entwürdigender Aberglaube« erschienen. Martineau weigerte sich, das Heilige Grab aufzusuchen, um sich die Waschung der Füße von Pilgern am Karfreitag anzusehen. »Ich konnte keinem im Namen des Christentums vollführten Mummenschanz beiwohnen«, schrieb sie, »mit dem verglichen der primitivste Fetischismus an den Ufern eines afrikanischen Flusses harmlos gewesen wäre.« Aus dem gleichen Grund hielt sie sich von der Zeremonie des heiligen Feuers am Ostersamstag fern, bei der sich Tausende von Orthodoxen ins Heilige Grab zwängten, um ihre Kerzen an den wundersamen Flammen anzuzünden, die aus dem Grab Christi hervorzüngelten. Rivalisierende Gruppen von Orthodoxen – Griechen, Bulgaren, Moldauer, Serben und Russen – rempelten einander an, um als Erste an der Reihe zu sein; es kam zu Prügeleien, und manchmal wurden Gläubige erdrückt oder vom Rauch erstickt. Baron Curzon, der 1834 Zeuge einer solchen Szene wurde, beschrieb die Zeremonie als »Schauplatz der Unordnung und Entweihung«, auf dem die Pilger »beinahe im Zustand der Nacktheit und mit rasenden Gesten herumtanzten, brüllten und schrien, als wären sie besessen«. 5
Es ist keine Überraschung, dass eine Unitarierin wie Martineau oder ein Anglikaner wie Curzon solche Rituale ablehnten, denn die Zurschaustellung religiöser Emotionen war in der protestantischen Kirche längst beseitigt. Wie viele Touristen im Heiligen Land hatten sie das Gefühl, weniger mit den orthodoxen Pilgern, deren wildes Gebaren kaum etwas Christliches an sich zu haben schien, als mit den relativ weltlichen Muslimen gemein zu haben, deren strikte Reserve und Würde ihren eigenen privaten Formen des stillen Gebets eher entsprachen. Auffassungen wie diese beeinflussten die Gestaltung der westlichen Politik gegenüber Russland in den diplomatischen Disputen über das Heilige Land, die am Ende zum Krimkrieg führen sollten.
Europäische Kommentatoren, die nichts von der Bedeutung des Heiligen Landes für Russland wussten und dieser Tatsache ohnehin gleichgültig gegenüberstanden, nahmen nur die wachsende Bedrohung wahr, welche die Russen für die Interessen der westlichen Kirchen darstellten. In den frühen 1840er Jahren schickte William Young, der britische Konsul in Jerusalem, regelmäßig Berichte über die stetig zunehmende Zahl
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