Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
seine Beurteilung dessen, wie sich eine Großmacht wie Russland gegenüber ihren schwächeren Nachbarn zu verhalten habe, und teils von einer groben Fehleinschätzung dessen, wie die anderen Mächte auf seine Maßnahmen reagieren würden. In erster Linie glaubte er jedoch, einen Religionskrieg zu führen, einen Kreuzzug, der sich von der russischen Mission zur Verteidigung der Christen des Osmanischen Reiches herleitete. Der Zar gelobte, es mit der ganzen Welt aufzunehmen, um seinen, wie er meinte, heiligen Auftrag zur Ausweitung des Reiches der Rechtgläubigen bis hin nach Konstantinopel und Jerusalem zu erfüllen.
Historiker haben die religiösen Motive des Krieges im Allgemeinen außer Acht gelassen. Kaum einer widmet dem Disput im Heiligen Land mehr als ein oder zwei Absätze: der Rivalität zwischen den Katholiken oder »Lateinern« (unterstützt von Frankreich) und den Griechen (ermutigt durch Russland) in der Frage, wer die Kontrolle über die Kirche vom heiligen Grab in Jerusalem und die Geburtskirche in Bethlehem ausüben solle – obwohl dies der Ausgangspunkt (und für den Zaren ein hinreichendes Motiv) des Krimkriegs war. Bis hin zu den Religionskriegen unseres eigenen Zeitalters schien es nicht plausibel zu sein, dass ein kleinlicher Streit um den Schlüssel irgendeines Kirchenvorstehers zu einem folgenreichen Krieg zwischen den Großmächten führen konnte. In manchen geschichtlichen Darstellungen dient der Disput über das Heilige Land dazu, den absurden Charakter dieses »albernen« und »unnötigen Krieges« zu untermalen. In anderen erscheint er lediglich als Auslöser für die wirkliche Kriegsursache: den Kampf der europäischen Mächte um Einfluss im Osmanischen Reich. Kriege, so heißt es in diesen Darstellungen, würden durch imperiale Rivalitäten, durch den Wettbewerb um Märkte oder durch nationalistische Stimmungen in der Heimat herbeigeführt. All das trifft zu, doch damit wird die Bedeutung der Religion im 19. Jahrhundert unterschätzt (wenn die Balkankriege der 1990er und der Aufstieg des militanten Islam uns irgendetwas gelehrt haben, dann gewiss dies: Die Religion spielt eine äußerst wichtige Rolle bei der Anheizung von Kriegen). Sämtliche Staaten benutzten sie als Druckmittel in der Orientalischen Frage, Politik und Glaube waren in dieser imperialen Rivalität eng miteinander verflochten, und jede Nation, keine in höherem Maße als Russland, zog mit der Überzeugung, dass Gott auf ihrer Seite sei, in den Krieg.
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Religionskriege
Seit Wochen strömten die Pilger zum Osterfest nach Jerusalem. Sie kamen aus jedem Winkel Osteuropas und des Nahen Ostens, aus Ägypten, Syrien, Armenien, Anatolien, der griechischen Halbinsel, vor allem aber aus Russland, von wo sie per Schiff zu dem Hafen Jaffa fuhren, um dort Kamele oder Esel für die Weiterreise zu mieten. Am Karfreitag, dem 10. April 1846, waren 20000 Pilger in Jerusalem. Sie belegten sämtliche Unterkünfte, die sie finden konnten, oder schliefen in Familiengruppen unter freiem Himmel. Um ihre lange Reise bezahlen zu können, hatten fast alle irgendeine Handelsware mitgebracht: zum Beispiel ein handgemachtes Kruzifix oder Schmuckstück, Rosenkränze oder bestickte Stoffe, die sie europäischen Touristen an den heiligen Stätten verkauften. Der Platz vor der Grabeskirche, dem Hauptziel ihrer Pilgerfahrt, war ein geschäftiger Markt, auf dem bunte Obst- und Gemüseauslagen mit Pilgerwaren und den stinkenden Fellen von Ziegen und Ochsen konkurrierten, welche die Gerber hinter der Kirche in die Sonne gelegt hatten. Auch Bettler versammelten sich hier und drohten Fremden, sie mit ihren leprösen Händen zu berühren, wenn ihnen Almosen verweigert wurden. Vermögende Touristen mussten sich auf den Schutz ihrer türkischen Führer verlassen, welche die Bettler mit schweren Stöcken schlugen, um ihren Kunden einen Pfad zur Kirchentür zu bahnen.
Im Jahr 1846 fiel Ostern nach dem römischen und griechisch-orthodoxen Kalender auf dasselbe Datum, weshalb die heiligen Stätten viel stärker bevölkert waren als sonst und eine angespannte Stimmung herrschte. Vertreter der beiden Religionsgemeinschaften stritten sich seit langem darüber, wer das Recht haben solle, seine Karfreitagsrituale als Erster am Kreuzigungsaltar in der Kirche vom heiligen Grab auszuführen – an der Stelle, an der das Kreuz Jesu in den Felsen eingedrungen sein soll. In den Jahren zuvor hatte sich die Rivalität zwischen Lateinern und Griechen so zugespitzt, dass
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