Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
Türken die griechischen und lateinischen Ansprüche sorgfältig gegeneinander abwägten. Bevor man zu einem Abschluss gelangte, verkündete La Valette, dass das lateinische Recht »eindeutig etabliert« sei, weshalb man die Verhandlungen nicht fortzusetzen brauche. Er sprach davon, dass Frankreich bei der Unterstützung des lateinischen Rechts »zu extremen Maßnahmen greifen« dürfe, und prahlte mit den »überlegenen Seestreitkräften im Mittelmeer«, die zur Durchsetzung französischer Interessen dienen könnten.
Es ist ungewiss, ob La Valette die Erlaubnis Napoleons zu einer so expliziten Kriegsdrohung besaß. Napoleon hatte kein besonderes Interesse an der Religion, kannte nicht die Einzelheiten des Disputs über das Heilige Land und verhielt sich in Vorderasien im Grunde defensiv. Aber es ist möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich, dass der Kaiser La Valettes Versuch billigte, eine Krise mit Russland zu provozieren. Er wollte jede Möglichkeit erforschen, einen Keil zwischen die drei Mächte (Großbritannien, Russland, Österreich) zu treiben, die Frankreich nach der Niederlage seines Großonkels Napoleon Bonaparte aus dem Europäischen Konzert ausgeschlossen und es den »erbitternden Verträgen« von 1815 unterworfen hatten. Louis-Napoléon durfte mit einiger Berechtigung hoffen, dass sich ein neues Bündnissystem aus dem Streit über das Heilige Land herausbilden würde, denn Österreich war ein katholisches Land und konnte vielleicht überredet werden, sich mit Frankreich gegen das orthodoxe Russland zu wenden, während Großbritannien seine eigenen imperialen Interessen im Nahen Osten gegen die Russen verteidigen wollte. Was immer die Hintergründe gewesen sein mochten, La Valettes vorsätzlicher Akt der Aggression erzürnte den Zaren, der den Sultan warnte, dass jegliche Anerkennung der lateinischen Ansprüche im Widerstreit mit bestehenden Verträgen zwischen der Pforte und Russland stehen und ihn zwingen werde, die diplomatischen Beziehungen zu den Osmanen abzubrechen. Diese plötzliche Wendung der Ereignisse alarmierte Großbritannien, das Frankreich zuvor zu einem Kompromiss geraten hatte, sich nun jedoch auf die Möglichkeit eines Krieges vorbereiten musste. 12
Der Krieg sollte erst zwei Jahre später beginnen, doch die dann auflodernde Feuersbrunst speiste sich aus religiösen Leidenschaften, die sich über Jahrhunderte angesammelt hatten.
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In höherem Maße als jede andere Macht wurde das Russische Reich im Innern von der Religion geleitet. Das zaristische System organisierte seine Untertanen nach ihrer konfessionellen Zugehörigkeit, und es begriff seine Grenzen und internationalen Verpflichtungen fast ausschließlich unter Glaubensaspekten.
Nach der Gründungsideologie des zaristischen Staates, der im 19. Jahrhundert durch den russischen Nationalismus an zusätzlicher Kraft gewann, war Moskau die letzte verbleibende Hauptstadt der Orthodoxie, das »dritte Rom«, nachdem Konstantinopel, das Zentrum von Byzanz, 1453 von den Türken erobert worden war. Dieser Ideologie zufolge gehörte es zur göttlichen Mission Russlands, die Rechtgläubigen vom islamischen Imperium der Osmanen zu befreien und Konstantinopel als Sitz des östlichen Christentums wiederherzustellen. Das Russische Reich wurde gleichsam als orthodoxer Kreuzzug verstanden. Von der Niederlage der mongolischen Khanate Kasan und Astrachan im 16. Jahrhundert bis zur Eroberung der Krim, des Kaukasus und Sibiriens im 18. und 19. Jahrhundert wurde Russlands imperiale Identität im Grunde durch den Konflikt zwischen christlichen Siedlern und tatarischen Nomaden in der eurasischen Steppe definiert. Diese religiöse Abgrenzung war für das Selbstverständnis des russischen Nationalbewusstseins immer viel wichtiger als jedes ethnische Merkmal: Der Russe war orthodox, und der Ausländer bekannte sich zu einem anderen Glauben.
Die Religion stand im Zentrum der Kriege Russlands gegen die Türken, die Mitte des 19. Jahrhunderts zehn Millionen orthodoxe Untertanen (Griechen, Bulgaren, Albaner, Moldauer, Walachen und Serben) in ihren europäischen Territorien und weitere drei bis vier Millionen Christen (Armenier, Georgier und eine kleine Schar von Abchasiern) im Kaukasus und in Anatolien zählten. 13
An der nördlichen Grenze des Osmanischen Reiches verlief eine aus Festungen bestehende Verteidigungslinie von Belgrad auf dem Balkan bis nach Kars im Kaukasus. Entlang dieser Linie waren sämtliche Kriege der Türkei mit Russland seit der
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