Kristall der Macht
wissen sie, wohin sie die Nachricht bringen sollen?«, fragte Rivanon. »Erzähl mir nicht, dass du es ihnen sagst.«
»Nein, so einfach ist das nicht.« General Triffin ergriff wieder das Wort. »Das Geheimnis liegt darin, dass Sprenkeltauben immer an den Ort ihrer Geburt zurückfinden, wo immer sie auch sein mögen, und darin, dass sie in der Lage sind, einen Menschen als Freund anzunehmen.«
»Einen Freund?« Rivanon konnte sich ein Lachen nur mühsam verkneifen. »Verzeih, Triffin, aber was für ein Unsinn ist das nun wieder?«
»Das ist kein Unsinn«, erwiderte Triffin kühl. »Es ist das Ergebnis monatelanger Übung.«
»Das wie aussieht?«, wollte der König wissen.
»Nun, unmittelbar bevor die jungen Tauben schlüpfen, nimmt man der Mutter das Gelege fort und übergibt es einem Pfleger, der die jungen Tauben umsorgt. Dadurch entsteht offenbar eine ganz besondere Bindung, die es den Vögeln erlaubt, ihren Ziehvater überall ausfindig zu machen. Dieselbe Bindung entwickeln sie zum Ort ihrer Geburt, denn es ist der Ort, an dem auch sie später brüten werden. Lässt der Ziehvater die Tauben fliegen, kehren sie an den Ort ihrer Geburt zurück. Von dort wiederum finden sie ihren Ziehvater mühelos, wenn man ihnen dessen Namen zuraunt, ehe man sie fliegen lässt.«
»Das ist Magie«, rief einer der Ratsmitglieder aus und klagte damit indirekt den Messerschmied an, denn Magie auszuüben war in Baha-Uddin strengstens verboten.
»Nein, es ist ihnen angeboren«, entgegnete der Messerschmied mit mühsam unterdrücktem Zorn. »Und es ist der Lohn für viele Monate harter Arbeit. Wer es nicht glauben will, der …«
»Beruhige dich, Mael«, fiel Triffin dem Mann ins Wort. »Ich glaube dir und ich bin sicher, die anderen werden dir auch glauben. Wenn nicht heute, dann spätestens, wenn mein Plan gelingt.«
»Und wie lautet dieser glorreiche Plan?«, fragte Rivanon auf eine Weise, die deutlich machte, dass er nur auf eine Gelegenheit wartete, Triffin zu verspotten.
»Der glorreiche Plan ist ganz einfach«, antwortete Triffin ruhig. »Wir überlassen dem stummen Schmied ein Gelege und …«
* * *
»Noelani. Bei allem, was heilig ist, wach auf!«
Unsanftes Rütteln und eine laute Stimme rissen Noelani aus dem tiefen Erschöpfungsschlaf, den die ungewöhnlich lange Geistreise der vergangenen Nacht ihr beschert hatte. Murrend drehte sie sich auf die andere Seite und zog sich die Decke über den Kopf, aber die Stimme gab keine Ruhe.
»Noelani! Verdammt, Noelani, wach endlich auf.«
Eine Hand packte ihre Schulter und rüttelte sie erneut.
»Lass mich.« Noelani schlug die Hand fort und genoss die Ruhe, die jedoch nicht von Dauer war.
»Noelani!« Mit einem Ruck wurde die Decke fortgezogen.
»Was …?« Noelani fuhr auf und schaute sich um. Die Heilige Ruhe , wie der Schlaf der Maor-Say nach einer Geistreise genannt wurde, durfte nicht gestört werden. So lautete das ungeschriebene Gesetz des Tempels. Der erschöpfte Geist konnte großen Schaden nehmen, wenn er sich nicht erholen konnte – und die Reise mit Kaori war besonders kräftezehrend gewesen.
»Jamak.« Noelanis Stimme wurde sanfter, als sie ihren väterlichen Freund und engsten Vertrauten vor dem Bett stehen sah. Sie richtete sich auf, winkelte die Knie an, schlang die Arme darum und fragte gähnend: »Warum weckst du mich auf?«
Jamak warf einen raschen Blick nach rechts und nach links, als müsse er sich vergewissern, dass sie allein waren, dann sagte er: »Der Nebel! Er steigt viel schneller, als wir gedacht haben!«
Augenblicklich war Noelani hellwach. »Wie schnell?«
»Er wird den oberen Rand der Klippe noch vor Sonnenuntergang erreicht haben.«
»Bei den Göttern!« Noelani schnappte nach Luft. Ihr Blick wanderte zum Fenster, durch das helles Sonnenlicht in den Raum fiel. »Wie spät ist es?«
»Fast Mittag.« Noch nie hatte Noelani Jamak so ernst gesehen. »Ich habe schon einige Maßnahmen eingeleitet. Seit dem frühen Morgen schaffen wir Lebensmittel, Decken und allerlei Gerätschaften auf das Plateau des steinernen Dämons. Da oben weht ein leichter Wind. Dort werden wir sicher sein.«
»Fragt sich nur, wie lange«, sagte Noelani düster und fragte dann: »Wissen alle Bescheid?«
»Das ließ sich nicht verhindern. Die beiden jungen Frauen, die den Nebel am Plateau entdeckt haben, haben die Nachricht sofort überall verbreitet.« Er seufzte. »Ich konnte eine Panik gerade noch verhindern, aber es wäre gut, wenn du zu den
Weitere Kostenlose Bücher