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Kristina, vergiß nicht

Kristina, vergiß nicht

Titel: Kristina, vergiß nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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Klasse schon längst flau geworden. Dörte feilte sich die Nägel, Dietmar schrieb hinter Johns Rücken eine Lateinübersetzung. Cornelia las in einem Taschenbuch.
    »Endlich«, seufzte Else, als der Gong das Ende anzeigte.
    Kristina fuhr gleich von der Schule aus zum Krankenhaus. Großmutter war am Morgen operiert worden.
    »Wie steht’s?«, fragte sie die Stationsschwester.
    »Ist eben erst aus dem OP gekommen. Hat zweieinhalb Stunden gedauert. Man kann noch nicht viel sagen. Die Geschwulst ist jedenfalls sauber herausgekommen.«
    »Darf ich zu ihr?«
    »Sie liegt noch in der Narkose. Aber setzen Sie sich nur zu ihr.« Sie öffnete Kristina leise die Tür zum Krankenzimmer. Die beiden Frauen, die mit Großmutter im Zimmer lagen, schliefen. Großmutters Bett stand in der Nähe des Fensters. Kristina erschrak, als sie die alte Frau sah, die grauen Haare strähnig und verschwitzt, den Arm fest gebunden und an eine Flasche gelegt, aus der alle fünf Sekunden ein Tröpfchen gelber Flüssigkeit durch einen Plastikschlauch in die Vene rann.
    Großmutter atmete flach und rührte kein Glied. Kristina saß lange und blickte in Großmutters Gesicht. Die Frauen in den anderen Betten wurden wach, es klapperte Kaffeegeschirr.
    »Essen Sie nur ein Stück Kuchen, Kind«, sagte die eine. »Die Oma darf doch die ersten Tage nichts essen.«
    »Ich mag nicht«, antwortete Kristina.

Kristina
    Stunden am Krankenbett. Ich zähle die Tropfen in die Vene. Tropfen Hoffnung. Tropfen Erinnerung. Bilder.
    Deine Hand auf meiner rotfleckigen Stirn. Ich hatte Scharlach. Kurz nachdem Mutter die Wohnung bekam. Ich merkte, Mutter war erleichtert. Scharlach war ein vortrefflicher Vorwand mich bei dir, Großmutter, zurückzulassen. Deine Hand auf meiner heißen, trockenen Stirn.
    Tropfen Erbarmen. Tropfen Erinnerung.
    Deine magere Hand schob sorgsam die winzigen Krümel Brot auf der Tischplatte zusammen. Gottes gute Gaben. Die Hand, die das letzte halbe Brot in zwei Stücke brach und der Zigeunerin gab, bevor sie noch darum bettelte.
    Tropfen Gerechtigkeit. Tropfen Erinnerung.
    Deine harte Hand. Du zerrtest mich zum Geschäftsführer des kleinen Ladens. Ich hatte ein Stückchen Band gestohlen, blaues Band für meine Puppe. Die zarte Hand, die mir noch in ebendieser Stunde ein langes blaues Band in den Schoß legte. Wie dick die Adern auf den Handrücken liegen. Knotig. Blau. Ich zähle die Tropfen.
    Tropfen Leben. Tropfen Erinnerung.
    Deine Geschichten, Großmutter, deine Geschichten. Deine Augen wurden rund. Sie sahen, was du erzähltest. Krieg. Tod. Gott. Ich sah es durch deine Geschichten.
    Ich zähle die Tropfen. Tropfen Trost. Tropfen Erinnerung.
    Ich kam mit Bonbons. Ein Kind noch. Ein junger Mann hatte sie mir geschenkt. Du glaubtest mir nicht. Ich konnte deinen Zweifel nicht ertragen. Unter der Bank habe ich die Zlotys gefunden, erfand ich. Du warst zufrieden. Bis die Aleksandrowicz dir sagte, ich zöge mit fünf Jahren schon den Männern das Geld aus der Tasche. Du hast mich um Verzeihung gebeten. Tränen in der Stimme. Ich musste dich trösten.
    Ich zähle die Tropfen. Tropfen Schmerz. Tropfen Erinnerung. Die ersten und die letzten Lügen, Großmutter. Von dir die Wahrheit. Als Antwort die Wahrheit. Ich lachte, als du bei der Miliz an jenem Mittwoch die Schieblehre als polnisches Erzeugnis hinstelltest. Ich lachte, als ich dich am Freitag derselben Woche zur Kirche gehen sah. »Was wirst du sagen in der Beichte?«, neckte ich dich.
    »Ich habe gesündigt wider die Wahrheit des Herrn«, hast du geantwortet, Zornfalten hoch in der Stirn.
    Ich zähle die Tropfen. Tropfen Zuversicht. Tropfen Erinnerung. Unser Atlas zeigte eine fettige Bahn quer durch Europa. Die Bahn meiner Finger. Die Bahn von Janecs Finger. Deine Hand hat unsere Finger geführt. Tausendmal. Von der Tuchler-Heide unweit der Weichsel in das Gewirr der Städte am Rhein. Dreißig Jahre lang hast du gewartet, gehofft, gestritten, geschrieben, gezittert. Für eine einzige Spanne von Kinderhand.
    Wo Menschen die Menschen fesseln wollen, will ich nicht leben. Tropfen in die Vene auf dem Wege ins Herz. Tropfen Erinnerung. Tropfen Hoffnung. Tropfen Tod?

Es war bereits fünf Uhr, als Großmutters dünne, dunkle Lider zu flattern begannen und sie die Augen aufschlug und unsäglich müde zunächst die Tropfflasche, dann Kristina anschaute. »Wie geht es dir?«, flüsterte Kristina.
    Ein kleines Lächeln zitterte um Großmutters Lippen. Sie flüsterte etwas. Kristina beugte sich dicht zu

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