Kristina, vergiß nicht
Kristina, vergiss nicht . . .
Sie werden dich doch wieder abwimmeln, Großmutter«, sagte Kristina.
»Abweisen.« Großmutter achtete streng darauf, dass keine Abweichungen von der Hochsprache vorkamen. Sie liebte überhaupt keinerlei Abweichungen. Sorgfältig breitete sie die Antragsformulare auf dem Tisch aus. Viele Bögen hatte sie mit ihrer kleinen, zierlichen Schrift bedeckt.
»Lies die Anträge, Kristina«, sagte die Großmutter. »Es darf kein Fehler darin sein.«
Das Mädchen hockte sich auf die Bank hinter dem Tisch. Schon wieder dieser Mist, dachte sie.
»Du weißt genau, dass du keine Fehler schreibst, Großmutter.«
»Ich bin alt, Kristina. Eine fremde Sprache bleibt fremd.«
»Fremde Sprache! Seit dreißig Jahren hörst du polnisch, liest du polnisch, schreibst polnisch an die Behörden und sprichst oft genug polnisch.«
»Es bleibt polnisch«, beharrte die Großmutter.
»Für mich ist Polnisch keine fremde Sprache. Es ist meine Sprache.«
»Rede nicht dumm, Kind. Dein erstes Wort, das du vor fünfzehn Jahren gesprochen hast, war: Mama. Und das ist deutsch!«
»Und die Nachbarn, die Schule, meine Freundinnen!«
Die Großmutter presste die Lippen gegeneinander und schwieg. Kristina wusste, wo die Großmutter verwundbar war. »Und Janec?«, fügte sie hinzu.
»Du sollst ihn nicht Janec nennen! Es sind die Umstände in diesem Land, die den Jungen so machen. Hans wird schon gutes Deutsch sprechen, wenn wir erst drüben sind.«
Kristina wusste, dass sie nicht daran vorbeikam, die Formulare wieder einmal zu lesen. Sie kannte die Fragen und Antworten längst auswendig. Achtmal schon waren Großmutters Anträge auf eine Ausreisegenehmigung aus Polen abgelehnt worden. Allein im vergangenen Jahr 1969 hatte sie all die Formulare dreimal abgeschickt und dreimal hatte es »nein« geheißen. Warum sollte es 1970 gelingen? Sinnlose Arbeit.
Kristinas ganze Kindheit hatte unter der Überschrift gestanden: Wenn wir erst drüben sind. Alles war vorläufig. »Vorläufig musst du eben hier in die Schule gehen.« – »Vorläufig fragen wir die Jablonska, ob sie dir Flötenunterricht gibt.« – »Vorläufig werden wir diese Wohnung beziehen.« Diese Wohnung! Kristina schlief mit der Großmutter zusammen in einem kleinen Zimmer – vorläufig. Das Licht fiel durch ein winziges Fenster auf einen altersschwachen Kleiderschrank. Ihr Metallbett stand in der dunklen Ecke an der Wand, dem Eichenbett der Großmutter gegenüber. Auf der Kommode mit der gesprungenen Marmorplatte hatte zwar eine irdene Waschschüssel ihren Platz, aber sie wuschen sich – vorläufig – in der Küche, weil auf dem gewaltigen Herd ein Kessel mit heißem Wasser wenigstens einen Hauch von Luxus bot.
Großmutters Lieblingsplatz war der rötlich schimmernde Holzsessel zwischen Tisch und Herd. Kristina hockte meist auf der Bank hinter dem Tisch. Die weiß gescheuerte Herdplatte war groß genug, um Hefte, Bücher, Atlas und Zeichenpapier darauf zu verteilen. Sie hatte das alles gern griffbereit, wenn sie mit den Arbeiten für die Schule begann. Sie hätte auch die Sekretärplatte des schmalen Fichtenschrankes herunterklappen können, aber das sah Großmutter nicht gern. Dort war Großvaters Platz gewesen. In den meisten der vierzehn winzigen Schubladen lagen noch immer Rädchen, Federn, Bolzen, Gläser, Uhrengehäuse.
»Lass sie vorläufig darin«, sagte Großmutter jedes Mal, wenn die Rede darauf kam.
Das einzig wirklich unpassende Möbelstück war das Klavier. Schwarz und feierlich füllte es beinahe die gesamte Fensternische. Früher, als Mutter noch im Hause wohnte, wurde gelegentlich darauf gespielt. »Wir lassen es vorläufig hier stehen.« Diese zermürbende Vorläufigkeit.
Nichts war endgültig, nichts sicher.
Blatt um Blatt des Antrags sah Kristina durch. Keinen Fehler fand sie. Manchmal war Großmutters Ausdrucksweise ungewöhnlich. »Würden Sie die Güte haben . . .« Wer schreibt so etwas heute noch?
Die Großmutter öffnete die Tür, die aus der Küche hinab in den Keller führte.
»Was willst du im Keller, Großmutter? Hat Jan dir kein Holz heraufgeholt?«
»Doch, Kristina. Ich muss etwas suchen.«
Großmutter stieg langsam die steile Stiege hinunter. Wolf, der große Hund, der faul auf seiner Decke gedöst hatte, sprang auf, reckte sich, gähnte und zeigte sein starkes Gebiss. Er neigte seinen Kopf tief in das Kellerloch und sog die Witterung ein. Seine spitzen Ohren spielten und seine gelbgrünlichen Augen versuchten
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