Kryson 04 - Das verlorene Volk
gesagt, das habe ich mir schon gedacht. Das eine gibt es aber nicht ohne das andere. Das Buch kann nicht gefunden werden, solange sich die Maya noch in den Schatten befinden. Das ist eine Bedingung Ulljans, die er einst in das Buch der Macht schrieb. Unabänderlich. Damit hat er – klug und umsichtig, wie er war – ein Auffinden und die Herausgabe des Buches durch die Wächter im Grunde unmöglich gemacht, denn seine zweite ebenfalls im Buch nachzulesende Bedingung war die Suche der sieben Streiter. Niemand sonst wäre in der Lage – außer den Wächtern natürlich – einen Zugang zu dem Buch zu erhalten. Aber Ihr seid gewiss nicht der Einzige, der das Buch finden und für sich haben will. Aber ich muss Euch warnen. Das Wissen um das Buch ist gefährlich. Und mir ist es vorherbestimmt, Euch zu prüfen. Ich bin der erste Wächter des Buches. Deswegen halte ich mich in Zehyr auf. Ihr seid noch jung und unerfahren, steckt sozusagen noch in den Kinderschuhen. Aber ein Lesvaraq braucht Zeit, seine Stärken zu entfalten und zu lernen. Das sehe ich, sonst wüsstet Ihr, wer Tarratar ist. Ihr seid noch nicht gefestigt und habt Euch selbst noch nicht gefunden. Das ist riskant. Solltet Ihr nicht zuallererst die Suche nach Eurem Ich abschließen, bevor Ihr die Maya und das Buch finden wollt? Seid Ihr wirklich schon bereit, Euch der Prüfung zu stellen?«
»Ich weiß nicht genau, wer oder was Ihr seid, Tarratar. Aber Ihr scheint viel über mich und das, was mich antreibt, zu wissen. Über eines bin ich mir allerdings sicher: Ich bin bereit«, sagte Tomal entschlossen.
»Wir werden sehen«, meinte Tarratar, nachdenklich überseinen Bart streichend, »wenn ich Euch dann bitten dürfte, mir zu folgen. Wir wollen mit der ersten Prüfung beginnen.«
Tarratar führte den Lesvaraq zu einem großen Gebäude in der Nähe des inneren Sanctums der Nno-bei-Maya. Dort hatte sich der Narr häuslich eingerichtet und den größten Teil seiner Schriften gelagert. Er bat Tomal herein und an einem ausladenden Steintisch Platz zu nehmen.
»Macht es Euch bequem und wartet bitte hier auf mich. Ich bin gleich zurück«, sagte Tarratar.
Tomal blickte Tarratar nach, als dieser leichtfüßig durch das Zimmer in eine andere Kammer tänzelte. Es rumpelte, krachte und fluchte aus der Kammer, in der Tarratar verschwunden war. Der Narr schien auf der Suche nach irgendetwas zu sein, was er nicht auf Anhieb finden konnte. Schließlich kehrte Tarratar mit einer alten Holzkiste und einem mit einem Tuch verdeckten Gegenstand zurück.
»Das habe ich nun davon, keine Ordnung zu halten«, sagte Tarratar mit einem verlegenen Lächeln auf den Lippen, »Ihr müsst nachsichtig mit mir sein. Ich lebe schon sehr lange in Zehyr. Niemand geht mir zur Hand. Da sammelt sich manch unnützer Tand in den Regalen, hinter dem sich das Wichtige nur allzu gerne versteckt. Aber ich wurde fündig. Wir können beginnen.«
»Gut!«, sagte der Lesvaraq ungeduldig.
Tarratar öffnete die Kiste und kramte eine leere Kristallphiole und einen winzigen, am Griff reichlich verzierten Dolch hervor. Die Klinge war nicht länger als zwei Zoll und schimmerte golden.
»Was ist das?«, fragte der Lesvaraq.
»Wonach sieht es denn Eurer Meinung nach aus?«, entgegnete Tarratar, den Lesvaraq musternd.
»Ein Dolch, geschmiedet für eine Puppe! Ein Spielzeug«, antwortete Tomal.
»Ihr solltet nicht nach der Größe eines Gegenstands auf seine Gefährlichkeit schließen. Das ist ein Dolch. Das habt Ihr gut erkannt. Aber ganz gewiss kein Spielzeug. Die Klinge ist kurz, aber sehr scharf und, richtig eingesetzt, tödlich.«
»Und was habt Ihr vor? Wollt Ihr mich damit erdolchen?«, lachte Tomal.
»Nein. Ich brauche etwas von Eurem wertvollen Blut«, antwortete Tarratar, »ich will sehen, ob Ihr auserwählt und stark genug seid, die Prüfungen zu überstehen. Außerdem stellt Euer Blut eine Art Pfand dar. Zu Eurer eigenen Sicherheit.«
»Was hat das zu bedeuten?«
»Nur Geduld, ich will Euch gerne erklären, worum es in den Prüfungen geht«, holte Tarratar aus. »Offenbar wisst Ihr, dass sich das Volk der Nno-bei-Maya in den Schatten verbirgt. Vielleicht kennt Ihr nicht die ganze Geschichte, aber das ist für die Prüfungen auch nicht wichtig. Ich werde Euch in das Reich der Schatten schicken, sobald Ihr dazu bereit seid und Ihr tatsächlich der Auserwählte sein solltet. Nur ein Nachfahre der Maya – des Volkes einz’ger Stolz, der Sohn des Feuers – ist in der Lage, das verlorene Volk
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