Kuckuckskind
sechsten Klasse bei mir beschwert, weil der Gecko ihm das Handy abgenommen und ihn, als er protestierte, mit Kreide beworfen hat.«
»Das darf er doch gar nicht!«
»Natürlich nicht. Übrigens habe ich den Gecko gestern mit seiner Frau im Supermarkt getroffen«, plaudert Birgit. » What an odd couple! Du hättest die beiden sehen sollen!«
»Erzähl schon«, sage ich begierig, denn Birgit lästert leidenschaftlich gern und gut. Dafür verzeihe ich ihr auch die angeberischen Zitate.
»Monsieur Gecko sah so aus wie immer, zwar grottenhässlich, aber auf altmodische Art schick. Heller Anzug, Strohhut, Stöckchen mit Elfenbeingriff, wie Thomas Mann am Lido. Raffinement! [25] Madame Gecko hat zwar ein hübsch ordinäres Gesicht, ist jedoch fett wie eine Weihnachtsgans. Und trägt die spießigsten Klamotten, die du dir denken kannst!«
»Nämlich?«
»Trotz der Hitze hatte sie dunkelbraune, blickdichte Venenstrümpfe an, frisch aus dem Sanitätshaus, und dazu graue Sandaletten. Ihr Rock war viel zu kurz und plissiert, so dass der Michelin um die Hüften zur Geltung kam. Bluse im Siebenbürger Trachtenstil. Kannst du dir vorstellen, wie dieses Paar zueinandergefunden hat?«
»Wahrscheinlich hat Monsieur seine Madame als Trostpreis gewonnen. Außerdem kann nicht jeder so schön sein wie ihr«, sage ich. Birgit und Steffen sind tatsächlich ein attraktives Paar, nach dem man sich schon mal umdreht.
Dann verlasse ich meine klatschsüchtige Kollegin. Wie mag sie wohl über mich und meine fünf grauen Sweatshirts reden? Manchmal würde ich gern über ernstere Dinge mit ihr sprechen, denn meine beiden Schulfreundinnen leben in Berlin und München, haben kleine Kinder und demzufolge andere Probleme als ich. Hier am Ort ist Birgit die Einzige, mit der ich Kontakt habe. Nach meiner Scheidung hat sie allerdings niemals vorgeschlagen, mit mir gemeinsam etwas zu unternehmen, oder [26] versucht, mir über meine unfreiwillige Einsamkeit hinwegzuhelfen. Doch immerhin drängt sie mir auch keine unerwünschten Ratschläge auf oder will Einfluss auf meinen Lebensstil nehmen wie meine Mutter.
Nach der Konferenz ist es fast Abend, aber noch angenehm mild draußen. Ich habe keine rechte Lust auf meine stickige Wohnung. Mit dem Fahrrad fahre ich zum Bahnhofskiosk, um meinen Bestand an Sudokus aufzufüllen. Aus einer spontanen Laune heraus schiebe ich dann das Rad hügelwärts bis zum Marktplatz, wo die Leute unter den Robinien sitzen, Eis löffeln, Bier trinken, Pizza essen und sich lautstark unterhalten. Wegen ihres milden Klimas wird die Bergstraße manchmal Toskana Deutschlands genannt, denn die Saison auf dem Weinheimer Marktplatz beginnt bereits im März. Lange bin ich nicht mehr hier gewesen, doch nirgends erspähe ich einen freien Platz. Resigniert will ich schon aufgeben, als ich meinen Namen rufen höre.
»Anja, nein, so was! Wir haben uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen!«
Seit meiner Scheidung bin ich Steffen tatsächlich kein einziges Mal mehr begegnet. Leicht verunsichert nähere ich mich seinem Tischchen, auf dem zwei leere Espressotassen stehen.
[27] »Komm, setz dich her, hier ist gerade ein Platz frei geworden«, sagt Birgits Mann und rückt mir einen Stuhl heran.
Ich zögere immer noch, denn ich will nicht gern an alte Zeiten erinnert werden. Aber schließlich sitze ich neben ihm, und er bestellt zweimal Weinschorle.
»Wolltest du dich hier mit Birgit treffen?«, frage ich, aber anscheinend ist das nicht der Fall.
Steffen sieht so gut aus wie eh und je. Seine Nase ist fast mädchenhaft klein, die Augen liegen weit auseinander, so dass er ein wenig wie ein großer Junge wirkt. Neu ist allerdings, dass er sich sein Haupthaar völlig abrasiert hat, was ihm meiner Meinung nach nicht besonders steht; doch bei näherem Hinsehen versöhnt mich die Sonnenbräune mit seiner Glatze.
»So kennst du mich noch gar nicht«, meint er und streicht sich über den Kahlkopf. »Was starrst du mich so skeptisch an? Im Winter lasse ich sie mir wieder wachsen. Nun erzähl doch endlich, wie es dir geht! Du siehst übrigens blendend aus.«
Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Ich ernähre mich ungesund, esse einen Tag zu viel, einen anderen fast gar nichts, bewege mich kaum – wenn man vom Schulweg absieht – und bin viel zu selten an der frischen Luft. Vor allem schlafe ich zu [28] wenig, denn ich löse Sudokus, bis mir die Augen zufallen.
Eine Weile erzählt Steffen von seinen beruflichen Erfolgen. Er ist Anlageberater
Weitere Kostenlose Bücher