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Kuehler Grund

Titel: Kuehler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Booth
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weiter zurück. Als er die erste Schlucht erreichte, waren die alten Männer in der Nacht verschwunden, als ob es sie nie gegeben hätte.
    Er blieb stehen und wartete unter den Bäumen. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Er fragte sich, was Diane Fry wohl getan hatte, als sie vom Parkplatz zurückgekommen war und ihn nicht mehr vorgefunden hatte. Gewiss würde sie diesmal so vernünftig sein, über Funk Verstärkung anzufordern. Sie würde den gleichen Fehler nicht noch einmal machen. Bestimmt nicht. Sie würde ihm nicht blindlings in die Gefahr folgen.
     
    Fry hatte den Wald kaum betreten, als sie merkte, dass es sie wieder überkam. Obwohl sie diesmal eine Taschenlampe dabei hatte, war es, als ob der schmale Lichtkegel zu ihren Füßen die Dunkelheit ringsum nur noch bedrohlicher machte. Sie fühlte sich vollkommen abgeschnitten und allein. Gierig kroch die Dunkelheit unter den Bäumen hervor, um schleimig nach ihr zu greifen und sich mit Ekel erregender, erstickender Vertraulichkeit an sie zu pressen.
    Die Nacht war von winzigen, wispernden Bewegungen erfüllt, wie das leise Zittern auf der Oberfläche einer Schüssel voller Maden. Frys Körperhärchen stellten sich auf, und sie hatte das Gefühl, sich kratzen zu müssen. Dann schwärmten unsichtbare Ameisen über ihren Körper, kneifend und beißend, Tausende winziger Insektenfüße kribbelten über ihre Arme und Beine, unter ihre Brüste und in die feuchte Wärme zwischen ihren Schenkeln, bis sie vor Ekel fast geschrien hätte.
    Sie wollte sich an irgendetwas Solidem festhalten, aber sie konnte ihre Hand nicht bewegen, weil sie Angst vor dem hatte, was ihre Finger greifen würden. Immerhin gelang es ihr, einen Fuß vor den anderen zu setzen, automatisch wie ein Roboter, der nur für eine einzige Handlung programmiert war. Mit jedem Schritt, den sie machte, wurde ihre Angst größer. Jede Bewegung war wie ein Sprung ins Leere, wie ein Schritt in ein unsichtbares Grauen.
    Sie wusste, dass sie machtlos war, die Schatten ihrer verdrängten Erinnerungen aufzuhalten. Die Erinnerungen waren zu stark und zu gierig, um sie begraben, zu lebendig, um sie auslöschen, zu tief in ihre Seele eingeätzt, um sie vergessen zu können. Tief in ihrem Inneren verborgen, lauerten sie nur auf eine Gelegenheit, wieder an die Oberfläche zu drängen.
    Während sie ging, drehte sie den Kopf hin und her, um sich im Dunkel unter den Bäumen keine Bewegung entgehen zu lassen. In undurchdringlichen Reihen standen sie da, wie drohende Gestalten, die sie umringten und immer näher kamen. Es waren ein, zwei Dutzend, vielleicht sogar mehr, und sie war allein. Andere Gestalten, weiter entfernt in der Dunkelheit, waren nur zu erahnen. Sie gafften und lachten, warteten gespannt darauf, was als Nächstes kommen musste. Rasselnde, murmelnde Stimmen. »Sie ist ein Bulle«, sagten die Stimmen. »Sie ist eine Bullensau.«
    Sie versank in einem Strudel der Erinnerungen. Da waren Bewegungen, die schleichend und raschelnd näher kamen, da waren kurze, bruchstückhafte Blicke auf Gestalten, die vom Licht der Straßenlaternen in ihre Einzelteile zerlegt wurden; da war der Ekel erregende Gestank nach Schnaps und Gewalt. Und dann schien sie die Stimmen zu hören – die raue Stimme mit dem nuschelnden Birminghamer Akzent, die aus der Dunkelheit auf sie zu kam. »Wie gefällt dir das, Bullensau?« Wieder das höhnische Gelächter in den Schatten. Überall die dunklen, bedrohlichen Gestalten um sie herum, wohin sie sich auch drehte und wendete. Eine Hand in ihrem Kreuz, ein ausgestrecktes Bein, das sie zu Fall brachte. Dann stürzte sie kopfüber ins Schwarze. Hände packten sie, kneifend und zerrend und schlagend. Ihre Arme wurden von unsichtbaren Fingern gehalten, die sie so fest umklammerten, dass es wehtat, so brutal, dass es ein Schock war. Dann ihre eigene Stimme, unnatürlich schrill und von Angst verzerrt, als sie zu schreien versuchte. Aber sie konnte es nicht.
    Nun ließ sich die Flut der erinnerten Sinneseindrücke nicht mehr eindämmen. Der Geruch einer schweißnassen Hand auf ihrem Mund, ihr Kopf, der auf den Boden schlug, während sie ihn hilflos von einer Seite auf die andere warf. Ihre Kleidung, hochgezerrt und zerrissen, der Schock, die grausame Luft auf Teilen ihres Körpers zu spüren. »Wie gefällt dir das, Bullensau?« Und dann das Grapschen und Wühlen und Quetschen, die heißen, drängenden Finger. Und dann, deutlich hörbar in der Nacht, das Ratschen eines Reißverschlusses. Noch ein

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