Kuehler Grund
Mal. Er wirkte wie ein geschlagener Mann, ein Mann, der seit Jahren an starken Schmerzen litt, Schmerzen, die ihn auch jetzt quälten. Aber waren diese Schmerzen rein körperlicher Natur?
»Könnte ich einen Blick auf Ihren Spazierstock werfen, Mr. Beeley?«
»Auf meinen Stock? Den habe ich seit einer Ewigkeit.«
»Darf ich?«
Sie streckte die Hand aus, und Sam legte ihn zögernd hinein. Der Stock war schwer und stabil, eine ausgezeichnete Arbeit, und er lag gut in der Hand. Der Knauf, dem Kopf eines Schäferhundes nachgebildet, war in Sam Beeleys Händen glatt und glänzend geworden. Mit dem harten, gerundeten Hinterkopf des Hundes hätte man einem Menschen leicht den Schädel einschlagen können, wenn man genügend Kraft besaß. Oder natürlich auch mit der richtigen Technik.
Sie untersuchte den Griff. Es gab keine sichtbaren Spuren. Aber er konnte natürlich längst gereinigt sein, und nach sechs Tagen ständigen Gebrauchs wären Blutspritzer oder Gewebereste längst durch die pergamentdünnen Handflächen des Besitzers abgerieben worden. Aber im Labor würde sich diese Frage schnell klären lassen, so oder so.
»Ich muss Sie bitten, mich aufs Revier zu begleiten, um ein paar Fragen zu beantworten«, sagte Fry.
Sam nickte müde. »Aber ich brauche meinen Stock.«
»Ich fürchte, Sie müssen eine Zeit lang ohne ihn auskommen.«
»Ohne meinen Stock kann ich nicht gehen«, insistierte er.
Sam zitterte noch stärker als gewöhnlich. Er sah eher aus, als könnte er einen Krankenwagen gebrauchen als eine Fahrt zur Polizeiwache. Fry zögerte. Die Fehler, die bis jetzt einen Durchbruch bei den Ermittlungen verhindert hatten, standen ihr nur allzu deutlich vor Augen. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war ein alter Mann, der einen Kollaps erlitt, während er sich in Polizeigewahrsam befand.
Während sie fieberhaft überlegte, sah sie an Sam vorbei in den Schuppen. Es war stockdunkel darin, aber ihr Blick wurde von einer leisen Bewegung angezogen. Da war etwas in dem Schuppen, schwärzer als die es umgebenden Schatten, etwas, was Augen hatte und sie beobachtete, als sie ihr Handy aus dem Peugeot holte. Sie brauchte Rat. Jemand anders sollte entscheiden, ob sie einen offensichtlich hilflosen alten Mann zur Vernehmung aufs Revier schleppen sollte.
Sie bekam den Dienst habenden Beamten im Einsatzraum an den Apparat, gab ihre Position durch und erkundigte sich nach Tailby und Hitchens. Aber der Beamte hatte Neuigkeiten für sie. Und was er ihr zu sagen hatte, ließ sie Sam Beeley fürs Erste vergessen.
Nachdem Fry noch ein paar Fragen abgeklärt hatte, forderte sie jeden Mann an Verstärkung an, der zu dieser späten Stunde verfügbar war. Sie beendete das Gespräch und wählte noch einmal, diesmal Ben Coopers Nummer. Sie musste ihm die Neuigkeit sofort sagen. Er musste Bescheid wissen, bevor er Harry Dickinson gegenübertrat.
Der Kollege hatte ihr erzählt, dass das Gebüsch hinter dem Garten der Villa am Nachmittag ein zweites Mal durchsucht worden war, und zwar diesmal mit dem Ziel, Indizien dafür zu finden, ob sich Andrew Milner auf dem Gelände aufgehalten hatte. Die Suche hatte sich eher zufällig auf den Garten ausgedehnt, und unter einer akkurat gestutzten Ligusterhecke hatte man am späten Nachmittag Laura Vernons zweiten Turnschuh gefunden.
Der Diensthabende war sehr gesprächig gewesen. Es war ein einsamer Job, und niemand machte sich die Mühe, den Stand der Ermittlungen mit ihm zu besprechen.
»Was meinen Sie, was hier los war?«, sagte er genüsslich. »Der Schuh kam schnurstracks ins Labor, wo sie Fingerabdrücke von zwei verschiedenen Personen gefunden haben. Mr. Tailby war total aus dem Häuschen. Vor allem, weil der Garten doch schon einmal durchkämmt worden war. Aber so ist es immer, nicht wahr?«
Fry hielt den Atem an, Sam Beeley und den Schuppen vor Augen, ohne sie wahrzunehmen.
Ein Fingerabdruckexperte hatte bis in die späten Abendstunden daran gearbeitet, die Fingerabdrücke von dem zweiten Turnschuh zu untersuchen und mit denen auf dem ersten zu vergleichen. Auf dem ersten Schuh hatten sie nur Lauras eigene Abdrücke gefunden – identifiziert anhand ihrer Leiche – und die von Harry Dickinson, der den Turnschuh ins Dial Cottage gebracht hatte. Als der Fingerabdruckbericht endlich fertig war, zeigte sich, dass die Abdrücke in beiden Fällen identisch waren. Das bedeutete, dass Harry Dickinson beide Turnschuhe in der Hand gehabt hatte. Aber nur einer von ihnen war bei der
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