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Kuehles Grab

Titel: Kuehles Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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    Mein Vater erklärte es mir zum ersten Mal, als ich sieben Jahre alt war: Die Welt ist ein System. Die Schule ist ein System. Nachbarschaften sind Systeme genau wie Städte und Regierungen. Auch der menschliche Körper ist ein System.
    »Du musst das System nicht mögen«, belehrte er mich. »Du musst nicht daran glauben oder damit übereinstimmen. Aber du musst es verstehen. Wenn du das System durchschaust, kannst du überleben.«
    Eine Familie ist ein System.
    Als ich an diesem Nachmittag aus der Schule kam, fand ich meine Eltern im Wohnzimmer vor. Mein Vater, ein Professor für Mathematik am MIT, Massachusetts Institute of Technology, kam selten vor sieben Uhr nach Hause. Heute jedoch stand er neben dem geblümten Sofa meiner Mutter und fünf ordentlich aufgereihten Koffern. Meine Mutter weinte. Zwar wandte sie sich, um ihr Gesicht zu verbergen, von mir ab, sobald ich zur Tür hereinkam, aber ich sah, dass ihre Schultern bebten.
    Beide trugen dicke Wintermäntel – das kam mir seltsam vor an diesem ziemlich lauen Oktobertag.
    Mein Vater ergriff als erster das Wort: »Geh in dein Zimmer und such dir zwei Sachen aus – Sachen, die du gern bei dir hast. Aber beeil dich, Annabelle; wir haben nicht viel Zeit.«
    Die Schultern meiner Mutter zitterten noch heftiger. Ich stellte meinen Schulranzen ab, lief in mein Zimmer und sah mich in meinem kleinen rosa und grün gestrichenen Reich um.
    Von allen Augenblicken aus meiner Vergangenheit ist dies derjenige, den ich am meisten zurücksehne. Die drei Minuten in meinem Kinderzimmer. Meine Finger strichen über die mit Stickern beklebte Schreibtischplatte, huschten über die gerahmten Fotos von meinen Großeltern. Über meine versilberte Haarbürste mit dem eingravierten Monogramm und den großen Handspiegel. Die Bücher ließ ich aus, und auch meiner Murmelsammlung sowie den selbst gemalten Bildern aus dem Kindergarten schenkte ich keine Beachtung. Ich weiß noch, dass mir die Wahl zwischen meinem Lieblingsstoffhund und meinem neuesten Schatz, einer Barbie im Brautkleid, sehr schwer fiel. Schließlich entschied ich mich für den Hund Boomer und meine heißgeliebte Babydecke aus dunkelrosa Flanell mit hellrosa Satineinfassung.
    Nicht für mein Tagebuch. Nicht für den Stapel alberner Briefchen von meiner besten Freundin Dori Petracelli. Nicht einmal für mein Babyalbum – dann hätte ich wenigstens in den kommenden Jahren Fotos von meiner Mutter gehabt. Ich war ein kleines, verängstigtes Kind.
    Ich glaube, mein Vater wusste, was ich mir aussuchen würde – er sah alles voraus, damals schon.
    Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Mein Vater war bereits draußen und lud das Gepäck in den Wagen. Meine Mutter hatte die Hände um die Säule gelegt, die das Wohnzimmer von der großen Küche mit Esstisch abteilte. Einen Moment lang dachte ich, sie würde die Säule nie wieder loslassen, sich wehren und fordern, dass mein Vater mit diesem Unsinn aufhören solle. Doch sie streckte nur eine Hand aus und strich mir übers dunkle Haar. »Ich liebe dich so sehr.« Sie umarmte mich, und ich spürte ihre von Tränen feuchte Wange an meiner Schläfe. Im nächsten Moment schob sie mich von sich und wischte sich das Gesicht ab.
    »Hinaus mit dir, Schätzchen! Dein Vater hat recht – wir müssen uns beeilen.«
    Ich folgte meiner Mutter zum Auto, Boomer unter dem Arm und die Decke in beiden Händen. Wir nahmen unsere üblichen Plätze ein – Vater hinter dem Steuer, Mutter auf dem Beifahrersitz, ich hinten.
    Mein Vater setzte unseren kleinen Honda rückwärts aus der Einfahrt. Gelbes und orangefarbenes Laub flatterte von der Birke und tanzte vor den Autofenstern. Ich legte die gespreizte Hand an die Scheibe, als könnte ich die Blätter berühren.
    »Winkt den Nachbarn!«, wies uns mein Vater an. »Tut so, als wäre alles ganz normal.«
    Damals sahen wir unsere kleine, von Eichen gesäumte Sackgasse zum letzten Mal.
    Eine Familie ist ein System.
    Wir fuhren nach Tampa. Meine Mutter wollte immer schon einmal Florida sehen, erklärte Vater. Wäre es nicht nett, nach all den Wintern in New England inmitten von Palmen und weißen Sandstränden zu leben?
    Da meine Mutter den neuen Wohnort ausgesucht hatte, durfte Vater unsere Namen bestimmen. Ich sollte von nun an Sally heißen, mein Vater Anthony, meine Mutter Claire. Ist das nicht lustig? Eine neue Stadt, ein neuer Name. Was für ein Abenteuer!
    Anfangs hatte ich Alpträume, fürchterliche, schreckliche Träume, aus denen ich schreiend

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