Kuehles Grab
gefüllten Augen und erklärte, dass meine Mutter tot sei.
Cops kamen. Ein Notarzt und Sanitäter. Ich sah zu, wie sie den Leichnam hochhoben. Ein orangefarbenes Pillenfläschchen, leer, fiel aus ihrer Rocktasche. Einer der Cops hob es auf und warf mir einen mitleidigen Blick zu.
»Gibt es jemanden, den wir anrufen sollten?«
»Mein Vater müsste bald nach Hause kommen.«
Er ließ mich bei Mrs. Torres. Wir saßen in ihrer Wohnung. Ich bewunderte die buntgestreiften Vorhänge vor den Fenstern und die geblümten Kissen auf dem zerschlissenen braunen Sofa und fragte mich, wie es wohl war, ein richtiges Zuhause zu haben.
Mein Vater kam, bedankte sich überschwänglich bei Mrs. Torres und brachte mich weg.
»Du verstehst doch, dass wir niemandem davon erzählen können, oder?«, sagte er immer wieder, sobald wir in unserem Apartment waren. »Wir müssen sehr vorsichtig sein. Ich möchte, dass du kein Wort darüber verlierst, Cindy.«
Als die Cops noch einmal zu uns kamen, übernahm er das Reden. Ich machte Hühnersuppe in unserer winzigen Kochnische warm. Hunger hatte ich keinen. Ich wollte meine Mom wiederhaben.
Später sah ich, dass mein Vater, mit dem abgetragenen rosa Morgenmantel meiner Mutter im Arm, auf dem Sofa lag und weinte.
Zum ersten Mal schlief mein Vater bei mir im Bett. Ich weiß, was man da denken könnte, aber so war es nicht.
Eine Familie ist ein System.
Wir warteten drei Monate auf die Freigabe des Leichnams meiner Mutter. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Autopsie angeordnet. Ich verstand das alles nicht. Doch eines Tages hatten wir meine Mutter zurück. Wir begleiteten sie von der Pathologie ins Bestattungsunternehmen. Sie wurde in eine Kiste gelegt, auf der ein falscher Name stand, und dann in den Verbrennungsofen gerollt.
Mein Vater kaufte zwei kleine Glasphiolen, die an Ketten hingen. Eine für ihn, eine für mich.
»Auf diese Weise«, erklärte er, »ist sie immer nah an unseren Herzen.«
Leslie Ann Granger. Das war der echte Name meiner Mutter. Leslie Ann Granger. Mein Vater füllte die Phiolen mit ihrer Asche, und wir trugen sie um den Hals. Die restliche Asche verstreuten wir im Wind.
Warum einen Grabstein kaufen, der nur eine Lüge untermauern würde?
Wir kehrten in unser Apartment zurück, und mein Vater brauchte mich nicht zu bitten; ich hatte unsere Koffer schon drei Monate zuvor gepackt. Kein Boomer, keine Babydecke diesmal. Ich hatte beides zu Mutter in den Sarg gelegt und mit in die Flammen geschickt.
Wenn die Mutter stirbt, wird es Zeit, die kindischen Eigenschaften abzulegen.
Ich entschied mich für den Namen Sienna. Mein Vater würde Billy Bob heißen, aber ich gestattete ihm die Abkürzung B. B. Er verdrehte die Augen, spielte aber mit. Da ich die Namen ausgesucht hatte, bestimmte er die nächste Stadt. Wir fuhren nach Seattle – mein Vater wollte immer schon die Westküste sehen.
In Seattle kamen wir besser zurecht – jeder auf seine Art. Vater arbeitete wieder bei Sears, und ohne je verraten zu haben, dass er schon einmal für das Unternehmen tätig gewesen war, kletterte er die Karriereleiter schnell hinauf. Ich schrieb mich in eine weitere überfüllte, staatliche Schule ein. Zudem vollzog ich den ersten Akt der Rebellion: Ich ging in eine Kirche.
Die kleine Congregational Church lag nur einen Block von unserer Wohnung entfernt. Mein Schulweg führte mich täglich an ihr vorbei, und eines Tages spähte ich durch den Spalt im angelehnten Portal. Am zweiten Tag ging ich hinein und setzte mich auf eine Bank. Am dritten Tag kam ich mit dem Reverend ins Gespräch.
Wird Gott einen Menschen in den Himmel führen, fragte ich, der unter einem falschen Namen begraben wurde?
An diesem Nachmittag unterhielt ich mich lange mit dem Geistlichen. Er hatte eine dicke Brille, spärliches graues Haar, ein freundliches Lächeln. Als ich nach sechs Uhr heimkam, wartete mein Vater bereits. Essen stand keines auf dem Tisch.
»Wo warst du?«, wollte er wissen.
»Ich wurde aufgehalten …«
»Hast du eine Ahnung, was für Sorgen ich mir gemacht habe?«
»Der Bus ist mir vor der Nase weggefahren. Ich wollte mit einem Lehrer über die Hausaufgaben sprechen. Ich … ich musste zu Fuß nach Hause gehen und wollte dich nicht im Büro stören.« Ich plapperte wild drauflos, die Wangen gerötet – das sah mir überhaupt nicht ähnlich.
Mein Vater musterte mich lange. »Du kannst mich immer anrufen«, sagte er unvermittelt. »Wir beide stehen alles gemeinsam durch.«
Er zauste mir
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