Kühlfach vier
Windböe mich erfassen und viele Hundert Meter oder
sogar Kilometer weit wegblasen könnte, sodass ich nicht mehr zurückkäme. Die Vorstellung war so schrecklich, dass ich mich
ganz nah an Martins Wollmäntelchen hielt, bis wir im Windfang des Hochhauses standen. Martin klingelte, die Gegensprechanlage
funktionierte nicht, die Tür wurde aufgedrückt, und wir betraten die dreckige Eingangshalle. Martin wirkte mit seinem Mantel,
dem ordentlich gekämmten Haar, den spießig-bequemen Lederschuhen und seinem Milchbartgesicht so deplatziert wie die Queen
im violetten Neonlicht eines öffentlichen Bahnhofsklos. Aber was sollte ich daran ändern? Außerdem ist ein Überraschungseffekt
immer gut, wenn man dumme Fragen stellen will, und Nina würde angesichts dieses Wesens aus dem leicht miefig-spießigen Akademikertum
vermutlich erstmal gründlich die Fassung verlieren. Was sie dann auch tat.
Martin stellte sich vor, sagte, sein Name sei Gänsewein (nicht gelogen, der heißt so! Das hatte ich ja bis dahin auch noch
nicht gewusst, und ich musste unwillkürlich loskichern) und er hätte ein paar Fragen zu meinem Tod. Martin nickte, als sie
Kaffee anbot, und hockte sich auf das alte, abgewetzte Ledersofa, von dem ich wusste, dass es dem alten Mann in der Nachbarwohnung
gehört hatte. Nach einem Herzinfarkt hatte der die Wohnung nur noch mit den Füßen voraus verlassen können. Das war der Moment
gewesen, in dem sich Nina und mein Nachfolger das zerschlissene Teil unter den Nagel gerissen hatten. Und jetzt war sie stolz
wie die Gewinnerin des Miss-Köln-Worringen-Wettbewerbs, dass sie ein Ledermöbel von solch erlesener |47| Qualität ihr Eigen nennen konnte. Sie machte Kaffee für ihren »Herrn Doktor«, was bedeutete, dass sie zwei Löffel Instantpulver
der billigsten Marke in einen Kaffeebecher mit Sprung schaufelte, heißes Wasser aus der Leitung in die Tasse füllte und einen
Löffel, den sie noch schnell mit dem Bündchen ihres Sweatshirts abgewischt hatte, hineinsteckte. Ich selbst hatte jahrelang
meinen Kaffee auf genau diese Art und Weise zubereitet, meist sogar auf das Abmessen mit dem Löffel verzichtet, wodurch die
Brühe mal stärker und mal dünner wurde, und mir nichts dabei gedacht. Aber mit dem korrekten Martin auf dem geklauten Sofa
kam mir diese Kaffeekultur plötzlich irgendwie arm vor.
Während Nina also ihren Gastgebertätigkeiten nachging, hatten Martin und ich genügend Zeit, einen ausgiebigen Blick durchs
Wohnzimmer schweifen zu lassen. Ich weiß nicht, ob der Tod den Geist des Menschen tatsächlich näher an etwas Höheres bringt,
jedenfalls war die Rückkehr in diese Wohnung, die für mich zeitweilig eine zweite Heimat gewesen war, eine Konfrontation mit
dem, was gemeinhin als irdisches Jammertal bezeichnet wird.
Die drei Aschenbecher auf dem Couchtisch und der vierte auf der Fensterbank quollen über und die Tatsache, dass die Tapeten
und Vorhänge einen deutlichen Stich ins Braun aufwiesen, ließ darauf schließen, dass der Genuss von Rauchwaren hier eine Dauerbeschäftigung
war. Ich hatte das natürlich schon vorher gewusst, aber es war mir nie so bewusst geworden, wie sehr eine Bude von Tabakqualm
verätzt wird. Die zwei Pflanzen, die auf der Fensterbank standen, hätten als Statisten in einem dieser italo-amerikanischen
Western dienen können, in denen abgestorbene |48| Büsche über staubige mexikanische Dorfstraßen geweht werden. Das einzige mit Buchstaben bedruckte Papier war die Fernsehzeitung,
sie wies diverse Abdrücke von Kaffeetassen und Bierflaschen auf. Aber das Kissen auf dem geklauten Sofa hatte diesen gesamtdeutschen
Arschritzenkniff.
Nina brachte ihre Kaffeezeremonie zum Abschluss, wie meistens von einem verhaltenen Fluch begleitet, wenn sie die Becher nicht
am Henkel anfasst und feststellt, dass das Porzellan heiß ist. Ich warf einen Blick in die Küche, dankte der Vorsehung, dass
Martin nur das Wohnzimmer zu sehen bekam und ertappte mich bei der Frage, welchen Zivilisierungsgrad man von Menschen erwarten
darf, deren Küche kleiner ist als das Gästeklo bei meinen Eltern. Nina kam herüber und setzte sich Martin gegenüber.
»Haben Sie gehört, dass Sascha Lerchenberg verstorben ist?«, fragte er, und er sagte wirklich »verstorben«.
»Ja.«
Nur dieses eine Wort von einer Frau, deren Vitalfunktionen nicht, wie bei den meisten Menschen, in Ein- und Ausatmen bestehen,
sondern in Einatmen und Ausquatschen. Niemals
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