Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
respektabel.
Der zweite Strudel, der das Land an der Kolyma erschütterte, waren die endlosen Erschießungen im Lager, die sogenannte »Garaninschtschina«. Eine Abrechnung mit den »Volksfeinden«, eine Abrechnung mit den »Trotzkisten«.
Monatelang wurden Tag und Nacht bei den Morgen- und Abendkontrollen zahllose Erschießungsbefehle verlesen. Bei fünfzig Grad Frost spielten Musiker, Häftlinge aus der Gruppe der
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, vor und nach der Verlesung jedes Befehls einen Tusch. Die rauchenden Benzinfackeln drangen nicht durch die Dunkelheit und lenkten Hunderte Augen auf die bereiften dünnen Papierblättchen, auf denen in Maschinenschrift solche schrecklichen Worte standen. Und gleichzeitig war es, als wäre nicht von uns die Rede. Alles war wie fremd, zu schrecklich, um real zu sein. Aber der Tusch existierte, er schmetterte. Die Musiker erfroren sich die Lippen an den Mundstücken der Flöten, der silbernen Helikontuben, der Ventilkornetts. Das Zigarettenpapier überzog sich mit Reif, und irgendein Natschalnik streifte, wenn er den Befehl verlas, die Schneeflocken mit dem Ärmel vom Blatt, um den nächsten Namen eines Erschossenen zu entziffern und aufzurufen. Alle Listen endeten gleich: »Das Urteil wurde vollstreckt. Der Leiter der USWITL Oberst Garanin.«
Ich habe Garanin an die fünfzig Mal gesehen. Vielleicht fünfundvierzig Jahre alt, breitschultrig, dickbäuchig, mit Halbglatze, mit dunklen, flinken Augen, war er in seinem SIS-110 Tag und Nacht in den Bergwerken des Nordens unterwegs. Später hieß es, er habe persönlich Menschen erschossen. Persönlich hat er niemanden erschossen – er unterschrieb nur die Befehle. Garanin war Vorsitzender der Erschießungstrojka. Die Befehle wurden Tag und Nacht verlesen: »Das Urteil wurde vollstreckt. Der Leiter der USWITL Oberst Garanin.« Nach der Stalinschen Tradition jener Jahre musste Garanin bald sterben. Und tatsächlich wurde er gefasst, verhaftet, als japanischer Spion verurteilt und in Magadan erschossen.
Kein einziges der zahlreichen Urteile aus Garanins Zeiten wurde jemals von irgendjemandem aufgehoben. Garanin ist einer der zahlreichen Henker Stalins, der zur rechten Zeit von einem anderen Henker umgebracht wurde.
Eine »Tarn«-Legende wurde in die Welt gesetzt, um seine Verhaftung und seinen Tod zu erklären. Angeblich wurde der echte Garanin auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle von einem japanischen Spion getötet, und entlarvt hat diesen die Schwester Garanins, die ihren Bruder besuchen wollte.
Die Legende ist eines von Hunderttausenden Märchen, mit denen die Stalinzeit den Leuten Ohren und Hirn verstopfte.
Und weswegen ließ Oberst Garanin erschießen? Weswegen töten? »Wegen konterrevolutionärer Agitation« – so nannte sich die eine Abteilung der Garaninschen Erschießungen. Was im Jahr 1937, in Freiheit, als »konterrevolutionäre Agitation« gelten kann, muss man niemandem erzählen. Hast du einen russischen Roman aus dem Ausland gelobt – zehn Jahre »
asa
«. Hast du gesagt, dass die Schlangen nach flüssiger Seife viel zu lang sind – fünf Jahre »
asa
«. Und nach russischer Gewohnheit, der Natur des russischen Charakters entsprechend freut sich jeder, der fünf Jahre bekommt, dass es nicht zehn sind. Wenn er zehn bekommt, ist er froh, dass es nicht fünfundzwanzig sind, und wenn er fünfundzwanzig bekommt, tanzt er vor Freude, dass er nicht erschossen wird.
Im Lager existiert diese Stufung – fünf, zehn, fünfzehn – nicht. Laut zu sagen, dass die Arbeit schwer ist, reicht schon aus für die Erschießung. Wegen jeder noch so unschuldigen Bemerkung über Stalin – Erschießung. Bei Hurrarufen auf Stalin zu schweigen – ist auch schon ausreichend für die Erschießung. Schweigen ist Agitation, das ist längst bekannt. Die Listen der künftigen, der Toten von morgen wurden in jedem Bergwerk von den Untersuchungsführern aus den Denunziationen zusammengestellt, aus den Berichten der eigenen »Zuträger«, der Informanten, und der zahlreichen Freiwilligen, der Orchestranten des bekannten Lagerorchester-Oktetts – »sieben blasen, einer pfeift« –, die Sprichwörter der Ganovenwelt sind aphoristisch. Aber ein »Fall« selbst existierte gar nicht. Es wurde auch keinerlei Untersuchung geführt. Den Tod brachten die Protokolle der »Trojka« – einer bekannten Einrichtung der Stalinzeit.
Und obwohl man damals noch keine Lochkarten kannte, versuchten die Lagerstatistiker sich die Arbeit zu erleichtern, indem sie die
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