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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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ging der Untersuchungsführer die dünnen Schriftstücke aus diesem Aktendeckel durch – es waren nicht mehr und nicht weniger als in jedem anderen Aktendeckel aus dem Berg von Aktendeckeln, die auf dem Boden lagen. Dann öffnete der Untersuchungsführer entschlossen die Ofentür, und im Zimmer wurde es sofort hell, als erstrahlte die Seele bis auf den Grund und hätte sich auf ihrem Grund etwas sehr Wichtiges, Menschliches gefunden. Der Untersuchungsführer zerriss den Aktendeckel und stopfte die Stücke in den Ofen. Es wurde noch heller. Krist verstand nichts. Und der Untersuchungsführer sagte, ohne Krist anzuschauen:
    »Schema F. Sie verstehen nicht, was sie tun, sind desinteressiert.« Und mit festem Blick sah er Krist an. »Schreiben wir weiter. Sind Sie bereit?«
    »Ja«, sagte Krist, und erst viele Jahre später begriff er, dass das seine, Krists, Akte gewesen war.
    Viele von Krists Kameraden waren schon erschossen. Erschossen war auch der Untersuchungsführer. Aber Krist war noch immer am Leben, und manchmal, mindestens alle paar Jahre, dachte er an den brennenden Aktendeckel und die entschlossenen Finger des Untersuchungsführers, die Krists »Akte« zerrissen – das Geschenk eines Verurteilenden an einen Verurteilten.
    Krists Handschrift war rettend, war kalligraphisch.
    1964

Die Ente
    Der Bergbach war schon vom Eis erfasst, und an den Sandbänken war der Bach schon verschwunden. Der Bach gefror von den Sandbänken her, und nach einem Monat war von dem sommerlichen, bedrohlichen, donnernden Wasser nichts übrig, selbst das Eis war zertreten, zerbröselt, zermalmt von Hufen, Reifen und Filzstiefeln. Doch der Bach war noch lebendig, das Wasser darin atmete noch – weißer Dampf stieg über den Eislöchern, den Schmelzlöchern auf.
    Eine entkräftete Tauchente klatschte ins Wasser. Der Schwarm war längst in den Süden geflogen, die Ente war geblieben. Es war noch hell, verschneit – besonders hell wegen des Schnees, der den ganzen kahlen Wald und alles bis zum Horizont bedeckte. Die Ente wollte sich ausruhen, ein wenig ausruhen und dann aufflattern und fliegen – dorthin, dem Schwarm hinterher.
    Sie hatte nicht die Kraft zu fliegen. Die zentnerschweren Flügel drückten sie an die Erde, doch auf dem Wasser fand sie Halt und Rettung – das Wasser in den Eislöchern erschien ihr als lebendiger Fluss.
    Doch ehe die Ente sich zurechtgefunden und verschnauft hatte, drang ein Ton der Gefahr an ihr feines Gehör. Und nicht ein Ton – ein Getöse.
    Von oben, vom schneebedeckten Berg, die gefrorenen, gegen Abend noch weiter erstarrenden Erdhöcker herunterstürzend, kam ein Mann gerannt. Er hatte die Ente längst gesehen und mit heimlicher Hoffnung beobachtet, und jetzt hatte sich die Hoffnung erfüllt – die Ente hatte sich auf das Eis gesetzt.
    Der Mann schlich sich an, aber stolperte, die Ente bemerkte ihn, und da rannte der Mann unverdeckt, aber die Ente konnte nicht fliegen – sie war müde. Sie hätte nur auffliegen müssen, und außer erbitterten Drohungen hätte ihr nichts gedroht. Aber um in den Himmel aufzufliegen, braucht es Kraft in den Flügeln, und die Ente war zu müde. Sie konnte nur untertauchen, verschwand im Wasser, und der Mann, mit einem schweren Ast bewaffnet, blieb am Eisloch stehen, in dem die Ente untergetaucht war, und wartete, dass sie zurückkommt. Denn die Ente wird ja atmen müssen.
    Zwanzig Meter weiter gab es ein weiteres Eisloch, und der Mann sah unter Fluchen, dass die Ente unter dem Eis durchgeschwommen und aus dem anderen Eisloch aufgetaucht war. Aber fliegen konnte sie auch dort nicht. Und sie brauchte Sekunden zum Verschnaufen.
    Der Mann versuchte, das Eis abzubrechen, zu zertreten, aber die aus Lumpen gefertigten Schuhe waren ungeeignet.
    Er schlug mit dem Stock auf das blaue Eis – das Eis brökkelte ein wenig, aber brach nicht. Der Mann ermattete und setzte sich schwer atmend auf das Eis.
    Die Ente schwamm im Eisloch. Der Mann rannte los, fluchte und warf Steine nach der Ente, und die Ente tauchte unter und tauchte im ersten Eisloch wieder auf.
    So hetzten sie hin und her – der Mann und die Ente, bis es dunkel war.
    Er musste zurück in die Baracke nach der erfolglosen Jagd, der zufälligen Jagd. Der Mann bedauerte, dass er seine Kräfte auf diese irrsinnige Verfolgung verwandt hatte. Vor Hunger konnte er nicht richtig denken, keinen vernünftigen Plan fassen, um die Ente zu täuschen, die Ungeduld des Hungers hatte ihm den falschen Weg, einen schlechten Plan

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