Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
eingegeben. Die Ente blieb auf dem Eis, im Eisloch. Er musste zurück in die Baracke. Der Mann hatte die Ente nicht fangen wollen, um das Geflügelfleisch zu kochen und zu essen. Eine Ente ist ja Geflügel, Fleisch, nicht wahr? Im Blechnapf kochen oder besser noch – in der Feuerasche vergraben. Die Ente mit Lehm bestreichen und in der glühenden lila Asche vergraben oder einfach ins Feuer werfen. Das Feuer brennt ab, und die Lehmhülle der Ente platzt. Innen ist dann heißes öliges Fett. Das Fett läuft über die Hände und erstarrt auf den Lippen. Nein, keineswegs dazu hatte der Mann die Ente fangen wollen. Dunkel und vage erschienen, erstanden in seinem Hirn umrisshaft andere Pläne. Diese Ente als Geschenk zum Vorarbeiter tragen, und dann wird der Vorarbeiter den Mann von der unheilvollen Liste streichen, die in der Nacht aufgestellt wird. Von dieser Liste wusste die ganze Baracke, und der Mann versuchte, nicht an das Unmögliche, an das Unerreichbare zu denken, wie er der Etappe entrinnen, wie er hierbleiben könnte, in dieser Außenstelle. Der hiesige Hunger war noch zu ertragen, und der Mann hat niemals das Gute gegen Besseres tauschen wollen.
Aber die Ente blieb im Eisloch. Es fiel dem Mann sehr schwer, selbst eine Entscheidung zu treffen, einen Schritt, eine Handlung zu vollziehen, die ihn das tägliche Leben nicht gelehrt hatten. Man hat ihn die Entenjagd nicht gelehrt. Daher waren auch seine Bewegungen hilflos und ungeschickt. Man hatte ihn nicht gelehrt, die Möglichkeit einer solchen Jagd zu bedenken – das Gehirn konnte unerwartete Fragen nicht richtig lösen, die das Leben stellte. Man hatte ihn gelehrt zu leben, wenn es keine eigene Entscheidung braucht, wenn ein fremder Wille, der Wille eines anderen die Ereignisse steuert. Es ist erstaunlich schwer, sich ins eigene Schicksal einzumischen, das Schicksal »umzulenken«.
Vielleicht ist es so das Beste – die Ente stirbt im Eisloch, der Mann in der Baracke.
Die frierenden, vom Eis zerschnittenen Finger ließen sich unter den Achseln kaum wärmen – der Mann schob die Hände, beide Hände unter die Achseln und zuckte zusammen von dem ziehenden Schmerz in den für immer erfrorenen Fingern. In seinem hungrigen Körper war wenig Wärme, und der Mann ging zurück in die Baracke, drängte sich zum Ofen durch und wurde trotzdem nicht warm. Sein Körper schlotterte haltlos.
Der Vorarbeiter schaute durch die Barackentür. Er hatte die Ente auch gesehen, hatte die Jagd des Toten auf die sterbende Ente gesehen. Der Vorarbeiter wollte aus dieser Siedlung nicht fort – wer weiß, was ihn an einem neuen Ort erwartete. Der Vorarbeiter hatte darauf gerechnet, mit einem großzügigen Geschenk – der lebenden Ente und »freien« Hosen – das Herz des Einsatzleiters zu rühren, der noch schlief. Nach dem Aufwachen konnte der Einsatzleiter ihn aus der Liste streichen – nicht den Arbeiter, der die Ente gefangen hat, sondern ihn, den Vorarbeiter.
Der Einsatzleiter knetete im Liegen mit geübten Fingern eine Papirossa Marke »Raketa«. Durchs Fenster hatte auch er den Anfang der Jagd gesehen. Wenn sie die Ente fangen – wird ihm der Zimmermann einen Käfig bauen, und der Einsatzleiter wird die Ente dem hohen Natschalnik bringen, vielmehr seiner Frau, Agnija Petrowna. Und die Zukunft des Einsatzleiters wird gesichert sein.
Doch die Ente blieb im Eisloch und erwartete den Tod. Und alles ging seinen Gang, als wäre die Ente gar nicht in diese Gegend eingeflogen.
1963
Der Geschäftsmann
Rutschkins gibt es im Krankenhaus viele. Rutschkin – das ist ein sprechender Beiname: also ist die Hand geschädigt, und nicht die Zähne ausgeschlagen. Welcher Rutschkin? Der Grieche? Der Lange aus Zimmer sieben? Dieser Kolja Rutschkin, der Geschäftsmann.
Koljas rechte Hand wurde von einer Explosion abgerissen. Kolja hat sie sich selbst abgesprengt, sich selbst verstümmelt. In medizinischen Berichten werden Gliederabsprenger in der Rubrik Gliederabhacker geführt. Sie ins Krankenhaus zu legen ist verboten, wenn sie nicht hohes, »septisches« Fieber haben. Kolja Rutschkin hatte solches Fieber. Zwei Monate kämpfte Kolja gegen das Verheilen der Wunde an, aber die jungen Jahre forderten ihr Recht – Koljas Zeit im Krankenhaus ging dem Ende zu.
Er muss zurück ins Bergwerk. Aber Kolja hat keine Angst – was können ihm, dem Einarmigen, die Goldgruben? Die Zeiten waren vorbei, wo man Einarmige zwang, »einen Weg zu treten« für Menschen und Traktoren in den
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