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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Holzeinschlägen, den ganzen Arbeitstag im tiefen, kristallenen Pulverschnee. Die Leitung bekämpfte die Selbstverstümmler nach Kräften. Damals fingen die Häftlinge an, sich die Beine wegzusprengen, indem sie die Zündhütchen gleich in den Filzstiefel steckten und die Zündschnur am eigenen Knie ansteckten. Noch günstiger. Zum »Wege-Austreten« wurden die Einarmigen nicht mehr geschickt. Werden sie ihn zwingen, Gold in der Pfanne zu waschen – mit einer Hand? Gut, im Sommer wird er vielleicht für einen Tag hingehen. Wenn es nicht regnet. Und Kolja lächelt über den ganzen Mund mit den weißen Zähnen – seine Zähne hatte der Skorbut noch nicht angegriffen. Mit der linken Hand eine Zigarette zu drehen hatte Kolja Rutschkin schon gelernt. Beinahe satt, erholt nach der Zeit im Krankenhaus, lächelt Kolja, er lächelt. Er ist ein Geschäftsmann, Kolja Rutschkin. Ständig tauscht er etwas, bringt den Durchfallkranken verbotenen Hering, und von ihnen kommt er mit Brot zurück. Die Durchfallkranken müssen sich ja auch im Krankenkaus halten, sich dort festsetzen. Kolja tauscht Suppe gegen Grütze, dann die Grütze gegen zwei Suppen, eine Brotration, die man ihm zum Tausch gegen Tabak anvertraut hat, kann er halbieren. Das bekommt er von den bettlägerig Kranken, aufgeschwemmten Skorbutkranken mit schweren Knochenbrüchen – aus den Sälen für traumatische Krankheiten oder, wie der Feldscher Pawel Pawlowitsch sagte, ohne die bittere Ironie seines Versprechers zu ahnen, für »dramatische Krankheiten«. Kolja Rutschkins Glück begann mit dem Tag, als es ihm die Hand »abriss«. Beinahe satt, beinahe im Warmen. Und die schmutzigen Flüche der Leitung, die Drohungen der Ärzte – all das hat für Kolja nichts zu bedeuten. Und es hat ja auch wirklich nichts zu bedeuten.
    Etliche Male in diesen zwei seligen Monaten, die Kolja Rutschkin im Krankenhaus lag, geschahen sonderbare und furchtbare Dinge. Die von der Explosion abgerissene, die nicht mehr vorhandene Hand – schmerzte genauso wie früher. Kolja spürte sie vollständig: die Finger sind genau in der Stellung gekrümmt, zusammengekrallt, in der die Hand im Bergwerk erstarrt war – um den Schaufelgriff oder Hackenstiel, nicht stärker und nicht schwächer. Den Löffel mit einer solchen Hand zu halten war schwer, aber einen Löffel brauchte man im Bergwerk auch nicht – alles Essbare konnte man »über den Napfrand« trinken, Suppe und Grütze, Mehlbrei und Tee. In diesen für immer gekrümmten Fingern konnte man die Brotration halten. Aber Rutschkin hatte sie abgehackt, hatte sie, verdammt nochmal, abgeschossen. Warum spürt er dann aber diese wie im Bergwerk gekrümmten, abgeschossenen Finger? Denn seine linke Hand hatte vor einem Monat angefangen sich geradezubiegen, sich aufzubiegen wie ein rostiges Scharnier, das wieder ein klein wenig Schmiere bekommen hat, und Rutschkin hatte vor Freude geweint. Er biegt sie auch jetzt, sich mit dem Bauch auf seine linke Hand wälzend, auf, biegt sie mühelos auf. Aber die rechte, die abgerissene – lässt sich nicht aufbiegen. All das passierte meist nachts. Rutschkin erstarrte vor Angst, er wachte auf und weinte und traute sich nicht, auch nur seine Nachbarn danach zu fragen – womöglich bedeutet das irgendetwas? Vielleicht wird er verrückt.
    Der Schmerz in der abgetrennten Hand kam seltener und seltener, die Welt wurde normal. Rutschkin freute sich seines Glücks. Und er lächelte, lächelte, wenn er daran dachte, wie gut ihm all das gelungen war.
    Der Feldscher Pawel Pawlowitsch kam aus dem »Kabäuschen«, in der Hand eine frische selbstgedrehte Machorka-Zigarette, und setzte sich neben Rutschkin.
    »Feuer, Pawel Pawlowitsch?« Rutschkin beugt sich vor den Feldscher. »Einen Moment!«
    Rutschkin stürzt zum Ofen, öffnet die Tür, wirft mit der linken Hand ein paar kleine brennende Kohlen auf den Boden.
    Ein schwelendes Kohlestückchen geschickt in die Höhe werfend, fängt Rutschkin es in der Handfläche auf und rollt das schon schwarze, aber immer noch flammende Kohlestückchen hin und her, bläst heftig darauf, damit das Feuer nicht erlischt, und hält es direkt vor das Gesicht des leicht vorgebeugten Feldschers. Der Feldscher hält die Selbstgedrehte in der Hand, zieht kräftig die Luft ein und raucht sie schließlich an. Fetzen blauen Rauchs ziehen über dem Kopf des Feldschers auf. Rutschkins Nasenlöcher weiten sich. In den Sälen werden von diesem Geruch die Kranken wach und ziehen verzweifelt den Rauch

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