Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)
das Baby. Langsam veränderte sich ihr Gesichtsausdruck: Die ängstliche Besorgnis der ratlosen Mutter ergriff wieder von ihr Besitz.
«Was hast du denn?», fragte Albert. «Das ist doch wirklich kein Grund zur Aufregung. Wenn sie sich erholen soll, braucht sie eben mehr als schäbige vier Unzen. Mach dich nicht lächerlich.»
«Komm her, Albert», flüsterte sie.
«Warum?»
«Ich habe gesagt, komm her.»
Er gehorchte und stellte sich neben sie.
«Sieh hin und sag, ob dir irgendwas auffällt.»
Er beugte sich über das Baby. «Sie ist dicker geworden, Mabel, wenn du das meinst. Dicker und größer.»
«Heb sie hoch», befahl Mrs. Taylor. «Komm, nimm sie auf.»
Er griff zu. «Mein Gott, sie wiegt ja mindestens eine Tonne!»
«So ist es.»
«Wie herrlich!», rief er begeistert. «Ich wette, sie hat schon ihr normales Gewicht erreicht.»
«Mir ist das unheimlich, Albert. Es geht zu schnell.»
«Unsinn.»
«Das liegt nur an diesem widerlichen Gelée», sagte sie. «Ich hasse das Zeug.»
«Gelée Royale ist nicht widerlich», antwortete er empört.
«Du weißt nicht, was du redest, Albert. Glaubst du, es ist normal , wenn ein Kind so schnell zunimmt?»
«Du bist aber auch nie zufrieden!», rief er. «Erst stirbst du vor Angst, weil sie abnimmt, und jetzt regst du dich auf, weil sie zunimmt. Was ist eigentlich mit dir los, Mabel?»
Sie stand auf und ging mit dem Baby im Arm zur Tür. «Ich kann nur sagen», erklärte sie, «es ist ein Segen, dass ich hier bin, um aufzupassen. Du wirst ihr nichts mehr davon geben, so viel ist sicher.»
Albert sah ihr durch die offene Tür nach, wie sie die Diele überquerte und anfing, die Treppe hinaufzusteigen. Als sie die dritte oder vierte Stufe erreicht hatte, blieb sie plötzlich ein paar Sekunden regungslos stehen. Sie schien nachzudenken. Dann machte sie kehrt und kam mit schnellen Schritten ins Zimmer zurück.
«Albert», sagte sie.
«Ja?»
«Ich nehme an, in der letzten Flasche, die wir ihr gegeben haben, war kein Gelée Royale.»
«Ich wüsste nicht, warum du das annehmen solltest, Mabel.»
«Albert!»
«Was ist denn?», fragte er unschuldig und sanft.
«Wie kannst du es wagen!»
Albert Taylors rundes, bärtiges Gesicht nahm einen gekränkten und verwirrten Ausdruck an. «Ich finde, du solltest sehr froh sein, dass sie nochmal eine große Dosis bekommen hat», sagte er. «Wirklich, das finde ich. Und glaub mir, Mabel, es war eine sehr große Dosis.»
Seine Frau presste das schlafende Kind an sich und sah ihren Mann mit weit aufgerissenen Augen an. Wie erstarrt vor Zorn stand sie in der Tür, hoch aufgerichtet, das Gesicht blasser, der Mund schmaler als sonst.
«Warte nur ab», fügte Albert hinzu, «deine Tochter wird so prächtig gedeihen, dass sie auf jeder Baby-Ausstellung im ganzen Land den ersten Preis kriegt. Warum legst du sie nicht gleich mal auf die Waage, um zu sehen, wie viel sie wiegt. Soll ich die Waage holen, damit du’s feststellen kannst?»
Seine Frau ging zu dem großen Tisch in der Mitte des Zimmers, legte das Kind darauf und fing an, es zu entkleiden. «Ja», antwortete sie kurz, «hol die Waage.» Das Babyjäckchen und das Hemdchen flogen beiseite, die Windel folgte, und schon lag das Kind nackt auf dem Tisch.
«Mabel!», rief Albert. «Das ist ja ein Wunder! Rund wie eine Kugel ist sie!»
Tatsächlich, das Kind hatte seit dem vorigen Tage eine erstaunliche Menge Fleisch angesetzt. Der schmale eingefallene Brustkorb mit den vorspringenden Rippen war jetzt dick und rund wie ein Fässchen, und der Bauch wölbte sich weit vor. Arme und Beine dagegen hatten mit diesem Wachstum merkwürdigerweise nicht Schritt gehalten. Sie waren kurz und mager geblieben und erinnerten an Stäbchen, die man in einen Fettkloß gespießt hat.
«Schau», sagte Albert, «sie bekommt sogar einen Pelz auf dem Bauch, der sie warm hält!» Er streckte die Hand aus, um mit den Fingerspitzen über den seidigen gelblichen Flaum zu streichen, der sich von einem Tag zum anderen gebildet hatte.
«Rühr sie nicht an!», schrie seine Frau, fuhr herum und stand mit flammenden Augen vor ihm. Sie sah plötzlich aus wie ein kleiner Kampfhahn. Ihr Hals vor vorgereckt, als wollte sie ihm ins Gesicht fliegen und ihm die Augen aushacken.
«Reg dich nicht auf», sagte er begütigend und wich ein wenig zurück.
«Du musst verrückt sein!», rief sie.
«Reg dich nicht auf, Mabel, bitte. Wenn du immer noch glaubst, es sei eine gefährliche Substanz … Das glaubst du
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