Küsse niemals deinen Chef! (German Edition)
sah eigentlich so aus, dass ich mich sang- und klanglos in Luft auflösen und Familie und Freunde im Stich lassen wollte!“, erklärte er mit triefendem Sarkasmus, „Doch leider warst du schneller und bist mir zuvorgekommen. Also war ich gezwungen zu improvisieren.“
„Du weißt, warum ich gehen musste“, erwiderte Jacob ruhig.
„Natürlich, doch inzwischen bist du zwanzig Jahre zu spät dran für moralgeschwängerte Gardinenpredigten. Ich brauche keinen großen Bruder mehr. Ich habe ihn nie gebraucht!“
„Schau dich doch an, Lucas“, forderte Jacob ihn auf – immer noch mit dieser ruhigen, sonoren Stimme, die von einer natürlichen Autorität zeugte, der man sich nur schwer entziehen konnte. „Siehst du nicht selbst, was aus dir geworden ist?“
Es war nicht das erste Mal, dass man ihn mit seinem Vater verglich, aber das erste Mal, dass die Kritik von jemandem kam, der unter demselben qualvollen Joch gelitten hatte wie er selbst. Das kam einem Tiefschlag gleich.
„Ich dachte, du wärst tot“, sagte Lucas kalt, weil er seinem Bruder nicht zeigen wollte, wie sehr ihn dessen Worte verletzten. „Und ich weiß nicht, ob der Gedanke mir nicht besser behagt hat.“
Mit einem tiefen Seufzer fuhr Jacob sich durch das dichte schwarze Haar. „Nicht, Lucas“, sagte er rau, „lass ihn nicht gewinnen.“
Während Lucas jetzt vor der riesigen Fensterfront seines Luxusbüros stand und hinausstarrte, seufzte er mindestens ebenso schwer. Dann wandte er sich abrupt um. Zur Hölle mit Jacob und seinen Moralpredigten!
Den ganzen Weg zurück zu seinem Wagen durch die lang gestreckte Allee von Wolfe Manor hatte er versucht sich einzureden, ihm wären Jacobs Vorhaltungen egal. Erst als die schwere Limousine London erreichte, zog Lucas sein Handy aus der Tasche und holte Charlie Winthrop rüde aus dem Schlaf. Nur um ihn wissen zu lassen, dass es ihm entgegen aller Versicherungen in den letzten Jahren ein außerordentliches Vergnügen bereiten würde, künftig für Hartington als Zugpferd zu fungieren.
Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst! machte er sich inzwischen über sich selbst lustig. Besonders, wenn du Lucas Wolfe heißt und immer bekommst, was du willst!
Um Punkt halb elf enterte Lucas pflichtschuldigst den Konferenzraum und erwartete nichts anderes als gähnende Langeweile, Bürokratie und wichtiges Getue!
Doch anstatt einer tristen Dokumentation erwartete ihn hinter der schweren Tür ein absolutes Chaos. Man musste keine speziellen Interna kennen, um zu begreifen, dass hier etwas gründlich schiefgelaufen war. Das bewies allein schon die Tatsache, dass niemand aus dem Team sein Eintreten bemerkte, wie Lucas etwas befremdet feststellte. Er ließ sich auf einen der Sitze an dem ovalen Besprechungstisch fallen und gab sich dem neuen, schockierenden Gefühl hin, einfach übersehen und ignoriert zu werden. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte sich Lucas Wolfe fast wie ein ganz normaler Mensch.
Selbst die sonst so beherrschte, professionelle Grace wirkte extrem gestresst, als sie mit einigen Minuten Verspätung den Raum betrat. Statt des gewohnt kompetenten Lächelns lag ein angespannter Ausdruck auf ihrem Gesicht.
„Es tut mir so leid, Grace“, empfing sie ein ängstlich wirkender Rotschopf.
„Sei nicht albern, Sophie“, wehrte Grace mit einer Stimme ab, die fast eine Oktave höher lag, als Lucas sie kannte. „Du konntest wohl kaum einen Rohrbruch voraussehen, als du das Objekt vor sechs Monaten angemietet hast.“
Ein anderes Teammitglied kam angerauscht, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, das ihre ohnehin gerunzelte Stirn noch sorgenvoller erscheinen ließ.
Lucas betrachtete Grace und fragte sich nicht zum ersten Mal, was ihn an ihr so ungeheuer faszinierte. Das mausgraue Kostüm, das sie heute trug, konnte jedenfalls nicht der Grund sein. Persönlich bevorzugte er an Frauen lebhafte, leuchtende Farben, die große Teile gebräunter, samtener Haut freiließen – wie eine schmale Wespentaille und den reizvollen Ansatz üppiger Brüste. Dazu modische High Heels und einen wilden Lockenkopf.
Ganz sicher aber keinen viel zu langen Rock, der kaum auf die Beinform schließen ließ, oder eine Kostümjacke, die es nicht aufzuknöpfen lohnte, weil es nicht mehr als eine hochgeschlossene pastellfarbene Seidenbluse bloßzulegen gab.
Und trotzdem war etwas an Grace Carter, das ihn nicht kaltließ. Das machte Lucas neugierig und weckte seinen Jagdinstinkt. Während des trüben Wochenendes, das er
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