Küsse niemals deinen Chef! (German Edition)
schwarzen Augen bedächtig von Kopf bis Fuß gemustert – über die frischen Blessuren und das wirre Haar, bis zum ramponierten Outfit.
Was Lucas dabei verspürte, kam Schamgefühl nahe. Näher jedenfalls als je zuvor in seinem Leben.
Haus und Umgebung schienen immer noch unter dem Bann des bösartigen Geistes von William Wolfe zu stehen und den Schrecken ihrer grausamen Kindheit zu verbreiten. Vielleicht lag es aber auch an der schlaflosen Nacht, dass er so empfand. Oder an Jacob selbst. Sein ältester Bruder war größer und breitschultriger als in Lucas’ Erinnerung. Eben ein erwachsener Mann, mit Reichtum und Erfolg gesegnet, wenn Haltung und Kleidung nicht täuschten.
Einen endlos scheinenden Moment hatten sie beide einfach nur im fahlen Morgenlicht da gestanden und einander abschätzend taxiert.
Lucas dachte an den besten Freund und Kumpel, als den er Jacob damals erlebt hatte. Sie waren nur ein Jahr auseinander und Verbündete gegen die Willkür ihres grausamen Erzeugers gewesen. Und hätte Jacob nicht an jenem Abend die Familie von dem andauernden Schrecken erlöst, wäre es auf jeden Fall sein Part gewesen. Er hätte es mit Freuden und ohne die Skrupel oder Reue getan, unter denen sein Bruder seit jenem Abend litt. In Lucas’ Augen war es ein längst überfälliger Akt gewesen, seinen Vater für immer aus dem Weg zu schaffen.
Und dann war Jacob ohne ein Wort verschwunden und zwanzig lange Jahre einfach weggeblieben. Lucas und seine Brüder waren damals noch junge Bengel gewesen, ohne Führung, ohne Halt und draufgängerischer und zynischer als ihre Altersgenossen, die unter normalen Umständen aufwuchsen.
Inzwischen waren sie längst erwachsen und einander fremd geworden.
Doch diesen Gedanken schob Lucas energisch zur Seite. Er sollte nicht ihr erstes Zusammentreffen bestimmen.
„Schön, dich zu sehen, Bruder“, sagte er mit belegter Stimme, als das Schweigen andauerte. „Natürlich hätte ich dir zu Ehren das beste Kalb geschlachtet, wenn sich der Küchentrakt nicht in einem derart desolaten Zustand befinden würde.“
„Ich habe deine Heldentaten in der Presse verfolgt.“ Jacobs Stimme klang wie damals, nur etwas voller und tiefer.
Lucas’ Mundwinkel wanderten nach unten. „Ich bin gerührt. Hätte ich auch nur vermutet, dass du tatsächlich an meinen Abenteuern interessiert bist, hätte ich dir jedes Jahr zu Weihnachten eine Liste mit den spektakulärsten Auftritten zukommen lassen.“
Jacob wandte den Kopf, und fast hätte Lucas die Hand ausgestreckt, um die klaffende Schlucht zwischen ihnen zu überbrücken. Aber er wusste nicht, wie. Hinter seiner Stirn pochte es höllisch. Wäre er doch bloß nach Hause gefahren, um sich auszuschlafen und hätte die Geister der Vergangenheit ruhen lassen!
Was kümmerte ihn das überhaupt alles?
Nicht umsonst hatte er es Jacob damals nachgemacht und diesen schaurigen Ort auf der Suche nach einem eigenständigen, guten Leben verlassen. Und was war daraus geworden? Eine Scheinexistenz, in der er noch weniger er selbst sein konnte als während der problematischen Kindheit, in der er für seine unbekannte Mutter das ungeliebte Kind gewesen war und für William Wolfe der ungewollte Bastard.
Inzwischen hatte Lucas, was öffentliche Akzeptanz betraf, eine beachtliche Karriere hingelegt. Er mutierte zum erklärten Liebling der High Society, und für die stets präsente Presse war er der Hauptakteur auf dem gesellschaftlichen Parkett, das er selbst als Bühne ansah, auf der er den Lucas Wolfe gab, den sein Publikum anhimmeln, verehren, lieben oder hassen konnte. Je nach Geschlecht und Gusto.
Hauptsache, niemand kam auf die Idee, hinter seine aalglatte Fassade schauen zu wollen.
„Es ist ja nicht so, dass wir nicht wüssten, wohin einen ein derartiger Lebensstil treiben kann, oder?“, murmelte Jacob so leise, dass Lucas es fast nicht gehört hätte.
Auf jeden Fall tat er so, um sich vor der Antwort drücken zu können, denn der versteckte Giftpfeil hatte sein Ziel nicht verfehlt. Lucas versuchte, den sengenden Schmerz in seiner Brust zu ignorieren. Ob sein Bruder in den ganzen Jahren tatsächlich das Bild ihres Erzeugers vor seinem inneren Auge gesehen hatte, wenn er etwas über ihn hörte oder las? War selbst Jacob auf die Maske hereingefallen, die ihm seit damals Schutz und Schild war?
Jacob der Held! Jacob der Retter! Jacob, der dachte, dass er ihn kannte!
Lucas versuchte, den bitteren Geschmack in seinem Mund loszuwerden.
„Mein Originalplan
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