Kunst des klaren Denkens
aufzuschieben. Der beste Beweis dafür sind die Wucherzinsen für Kreditkartenschulden und andere kurzfristige Konsumkredite.
Fazit: Die unmittelbare Belohnung ist unheimlich verführerisch – und Hyperbolic Discounting trotzdem ein Denkfehler. Je mehr Macht wir über unsere Impulse gewinnen, desto besser gelingt es uns, diesen Fehler zu vermeiden. Je weniger Macht wir über unsere Impulse haben – zum Beispiel unter dem Einfluss von Alkohol –, desto mehr verfallen wir ihm. Carpe diem ist eine gute Idee – einmal die Woche. Doch jeden Tag zu genießen, als wäre es der letzte, ist Schwachsinn.
NACHWORT
»In der Gemeinschaft ist es leicht, nach fremden Vorstellungen zu leben. In der Einsamkeit ist es leicht, nach eigenen Vorstellungen zu leben. Aber bemerkenswert ist nur der, der sich in der Gemeinschaft die Unabhängigkeit bewahrt.« (Ralph Waldo Emerson)
Es gibt eine heiße und eine kalte Theorie der Irrationalität. Die heiße Theorie ist uralt. Bei Platon findet sich dieses Bild: Der Reiter lenkt die wild galoppierenden Pferde. Der Reiter steht für die Vernunft, die galoppierenden Pferde für die Emotionen. Die Vernunft zähmt die Gefühle. Wenn das nicht gelingt, bricht die Unvernunft durch. Ein anderes Bild: Gefühle sind die brodelnde Lavamasse. Meistens kann die Vernunft sie unter dem Deckel halten. Doch ab und zu bricht die Lava der Irrationalität durch. Darum: heiße Irrationalität. Mit der Vernunft ist eigentlich alles in Ordnung, sie ist fehlerfrei, nur dass die Emotionen oft stärker sind.
Über Jahrhunderte brodelte diese heiße Theorie der Irrationalität. Bei Calvin sind die Gefühle das Böse, und nur die Konzentration auf Gott kann sie zurückdrängen. Menschen, aus denen die Lavamasse der Emotionenbricht, sind des Teufels. Sie wurden entsprechend gefoltert und umgebracht. Bei Freud werden die Gefühle (das Es) von Ich und Über-Ich kontrolliert. Doch das gelingt selten. Bei allem Zwang, bei aller Disziplin: Zu glauben, wir könnten unsere Emotionen restlos durch Denken kontrollieren, ist illusorisch – so illusorisch wie der Versuch, das Wachstum unserer Haare gedanklich zu steuern.
Die kalte Theorie der Irrationalität hingegen ist noch jung. Viele haben sich nach dem Krieg gefragt, wie die Irrationalität der Nazis zu erklären sei. Gefühlsausbrüche kamen in den Führungsrängen von Hitlers Regime kaum vor. Selbst seine eigenen, feurigen Reden waren nichts als schauspielerische Meisterleistungen. Keine Lavaausbrüche weit und breit, sondern eiskalte Entscheidungen führten in den nationalsozialistischen Irrsinn, und Ähnliches ließe sich von Stalin oder von den Roten Khmer sagen. Unfehlbare Rationalität? Offenbar doch nicht; etwas muss daran faul sein. In den 1960er-Jahren haben Psychologen begonnen, mit den unsinnigen Behauptungen von Freud aufzuräumen und unser Denken, Entscheiden und Handeln wissenschaftlich zu untersuchen. Das Ergebnis: eine kalte Theorie der Irrationalität, die besagt: Das Denken per se ist nicht rein, sondern fehleranfällig. Und zwar bei allen Menschen. Selbst Hochintelligente tappen immer wieder in dieselben Denkfallen. Und: Die Fehler sind nicht zufällig verteilt. Je nach Denkfehler laufen wir systematisch in eine ganz bestimmte Richtung falsch. Das macht unsere Fehler prognostizierbar, und damit zu einem gewissen Grad korrigierbar. Zu einem gewissen Grad – nicht vollständig.
Einige Jahrzehnte lang blieben die Ursprünge dieser Denkfehler im Dunkeln. Alles andere an unserem Körper funktioniert weitgehend fehlerfrei – das Herz, die Muskeln, die Atmung, das Immunsystem. Warum soll sich ausgerechnet das Hirn einen Lapsus nach dem andern leisten?
Denken ist ein biologisches Phänomen. Es ist genauso von der Evolution geformt wie die Körperformen von Tieren oder die Farben von Blüten. Angenommen, wir könnten 50.000 Jahre zurückgehen, einen beliebigen Vorfahren packen, ihn in unsere Gegenwart entführen, zum Friseur schicken und anschließend in Hugo-Boss-Klamotten stecken – er würde auf der Straße nicht auffallen. Natürlich, Deutsch müsste er lernen, Autofahren, den Mikrowellenherd bedienen, aber das mussten wir ja auch. Die Biologie hat jeden Zweifel ausgeräumt: Körperlich, und das schließt das Hirn mit ein, sind wir Jäger und Sammler in Hugo-Boss-Kleidern (oder H&M, je nachdem).
Was sich allerdings markant geändert hat seit damals, ist die Umgebung, in der wir leben. In Urzeiten war sie einfach und stabil. Wir lebten in
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